Die Lieben meiner Mutter
durchbricht?
Gerhard ist die Ansprache seiner ungewöhnlichen Geliebten, die ihn zwischen Heuschobern und himmelhoch ragenden Felswänden derart bestürmt, unheimlich. Vielleicht ist er mit dieser Mutter von vier Kindern in neue Gefilde der Lust vorgedrungen, aber ihre Ansprüche und ihr hoher Ton bringen ihn aus der Fassung. Er stößt sie weg, will sich von ihr losreißen, er beschimpftsie und schwört, dass er sie niemals lieben werde.
Seine Geliebte will es nicht begreifen.
Daß dein Herz nicht weiß, was deine Hände tun. Wenn von irgendetwas Unfaßbarem, einer grausigen Tat, einem zu frühen Tod, dem ein Mensch sich hingab, ein Riß durchs All geht – wie ein Sprung im Göttlichen selbst –, dann muß er den gleichen Klang haben wie deine Worte an meinem Ohr. Worte, die alles zurücknehmen, alles ungeschehen machen wollen, das doch geschah.
Sie hadert mit Gerhard, weil er Wochen nach seiner Abreise immer noch nichts hat von sich hören lassen. Dieser Feigling! Hätte er ihr geschrieben, klagt sie Heinrich, so hätte er sich irgendwie bekennen müssen, aber dieser Herausforderung sei er ausgewichen. Es sei nicht die erste Freundschaft, die an diesem Ausweichen, an dieser Nicht-Achtung kaputt gehe. Ganz unbefangen erkundigt sie sich bei ihrem Mann, wie Gerhard nach seiner Rückkehr über sie geredet habe, ob er inzwischen voller Ressentiments gegen sie stecke. Und fragt, ob er sich in Hannover denn mit dieser anderen Frau getroffen habe.
Heinrich zerstreut ihre Befürchtungen hinsichtlich dieser Erna und freut sich auf den bevorstehenden Besuch seiner Frau in Hannover.
Die Mutter sagt die geplante Reise ab. Ach, sie habe Angst vor allen Auseinandersetzungen, auch vor denen mit sich selber. Wovor sie denn nicht Angst habe in diesem Leben? Wenn sie in Hannover doch nur traurig seinmüsse wegen Gerhard, sei es wohl besser, sie bleibe in Grainau. Denn trauern könne sie in ihrer Sofaecke auch.
Leb wohl, mein Lieber, Guter. Schreib bald, deine Briefe gehören zu den ganz wenigen Freuden!
Wie hat der Vater diese Zumutungen ertragen? Hat er in seiner Frau ein krankes Kind gesehen, das er nur durch Besänftigung und Beruhigung am Leben erhalten konnte? War er so verliebt in seine Frau, dass er meinte, er könne sich ihre Liebe nur bewahren, wenn er ihr jeden Abweg verzieh?
23
Wenig später verschlägt es noch einen anderen Kollegen von Heinrich in das Holzhaus in Grainau. Horst, ein enger Freund von Andreas und von Heinrich, ist sanfter und wohl auch intelligenter als Gerhard und nimmt sich vor allem der wunden Seele seiner Gastgeberin an. Aber leider ist auch er nicht von der Unart frei, die sie all ihren Liebhabern vorhalten muss. Genau wie Andreas oder Gerhard bringt er es Wochen nach seiner Abreise nicht über sich, sich mit einer Zeile zu bedanken. Horst schreibe wenig, viel zu wenig – nur einmal die Woche!, beschwert sich die Mutter bei Heinrich, das solle er Horst ruhig sagen. Aber wahrscheinlich turne der inzwischen mit anderen Weibern in Hannover herum und habe keine Zeit mehr für seine Freundin in Grainau.
Dass sich die Liebhaber der Mutter vielleicht für Freiheiten, die sie selbst für gottgegeben hielt, vor Heinrich in den Boden schämten, hat in ihrer Vorstellung von der Liebe zwischen verwandten Seelen keinen Platz.
Ansonsten hat sie Heinrich über Horst nur das Beste zu berichten. Sie schwärmt davon, wie nah und vertraut ihr – im Unterschied zu Andreas – Horsts Reaktionen seien,wie er aus seinen Erfahrungen und Wegen das Gleiche herauslese wie sie selber. Sie sei unendlich dankbar über diesen Freund, der ihr nicht etwa Tränen entlocke, sondern ihr Herz hell und weit mache. Und vergisst nicht, ihrem Mann zu danken, daß du mir dies läßt. An meinen Freunden sehe ich wieder, daß ich richtig verheiratet bin.
Sie verspricht ihm, diesen Reichtum für ihn und die Kinder nutzbar zu machen, sie spüre, dass sie bereits auf diesem Wege sei. Denn solche Begegnungen würden ja immer die mit einbeziehen, die sie liebe, und ihrer Bereitschaft für sie neue Impulse geben. Ach, und noch etwas: Ob Heinrich dem guten Horst nicht einmal seine Monatsfahrkarte leihen könne, damit er öfter kommen könne!
Im Gespräch mit Gisela Deus versuche ich, Erklärungen für die rätselhafte Toleranz des Vaters zu finden. Über ihre Liebesabenteuer hat ihn seine Frau so umgehend ins Bild gesetzt, dass es fast den Anschein hat, als folge sie einer eingespielten Gewohnheit, ja einer Art Vereinbarung mit ihm.
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