Die Lieben meiner Mutter
Fahrt, gesteht sie ihm.
Heinrich ist beunruhigt. Nie zuvor hat ihn seine Frau gebeten, sie für die Fahrt zu ihm in Grainau abzuholen. Nie hat sie sich so verzweifelt darüber beklagt, dass die Beziehung zwischen ihnen nur noch im Austausch von Worten bestehe.
Inzwischen macht sich auch Andreas Sorgen um seine ehemalige Geliebte. Ob sie denn in Hannover genügend Ruhe und Pflege haben werde. Diese Stadt sei doch von einer entsetzlichen Lahmheit, und außerdem total zerbombt. Er sei so weit, dass er Trümmer in jederForm nicht mehr ertrage; aus diesem Gefühl entstehe seine Arbeit – aus dem Kampf gegen die Zerstörung. Leider könne er nicht nach Hannover kommen, er habe Proben mit Gottfried von Einems »Dantons Tod«.
Die Mutter kann die Reise nach Hannover wieder nicht antreten, sie muss wegen einer Blutsenkung nach München. Sie wolle Andreas, der gerade in München inszeniert, nicht sehen, schreibt sie Heinrich – auch auf die Gefahr hin, dass sie ihm damit berufliche Chancen in Hamburg verderbe. Gebe der Himmel, dass sein berühmter Optimismus wieder einmal obsiege. Allerdings könne er sie damit nicht mehr anstecken. Neunzig Prozent ihrer Tage seien schwer und grau.
In den letzten Briefen an ihren Mann meldet sich, verhalten erst, dann immer deutlicher, ein Verlangen, dem sie nur in ihren ersten Ehejahren Ausdruck gegeben hat. Es bedurfte nur noch deiner lieben Karte, um die Sehnsucht ganz groß zu machen .
Es ist, als ob sie erst in ihrer Sofaecke, die immer mehr zu ihrem Krankenlager wird, entdeckt, was sie die ganzen Jahre lang an Heinrich gehabt hat, an seiner Unbeirrbarkeit und Treue. Sie liest in den Leerstellen zwischen seinen mit steiler Schrift geschriebenen Worten und erspürt, was er ihr in seiner knappen Art nicht gesagt hat, nicht sagen konnte.
Irgendwie liegt Traurigkeit zwischen deinen Zeilen, stimmt’s? Sieh, jetzt möchte ich das, was ich mir so oft und so sehr von dir wünsche:Dich an mein Herz nehmen und dich streicheln und trösten können. Das Wissen darum, daß du Ruhe nötig hast – Aufgefangensein –, berührt mich wie ein Anruf, dem ich nicht widerstehen kann, niemals widerstehen wollte. Manchmal bin ich erschrocken, daß die Frau in mir jetzt erst wach wird.
Heinrich kann die Auslassung in diesem Satz nicht entgangen sein: dass die Frau in ihr jetzt erst gegenüber ihm, gegenüber Heinrich, wach geworden sei.
Wenn du nicht so oft schreiben und mir damit helfen würdest, dann würde ich von Tag zu Tag warten und denken, du müßtest kommen, obwohl ich weiß, daß es nicht geht. Aber manche Dinge können einem ins Ohr geschrien werden, und man begreift sie doch nicht – man begreift doch nicht, warum jemand, der ständig in einem Raum neben einem geht, an dessen Atem sich der eigene belebt, nicht plötzlich dastehen kann, ja, ganz leibhaftig! Schimpf nur mit mir – »Du willst alles so deutlich!« – ja, dich will ich so nahe, so wirklich, so sinnenhaft spüren wie mich selbst, und keiner wird mich glauben machen, daß es dafür irgendeinen Ersatz gäbe.
Der Adressat ihrer Sehnsucht ist nicht mehr derselbe. So hat sie bisher nur an Andreas geschrieben. Aber ist ihr das Gefühl einer verzehrenden, vielleicht unerfüllbaren Sehnsucht nicht immer wichtiger gewesen als deren Adressat?
Immer öfter bricht sie in Empörung über ihr Los als Frau und Mutter aus – das arbeitende, dreckbeseitigende Haustier. Eine Familie anzuziehen, ist fast allein ein Hauptberuf!
Sierechnet ihrem Mann die Arbeitszeiten vor: Für jedes Kind hat sie eine Montur genäht, bestehend aus drei Teilen. Pro Teil braucht sie 7–8 Stunden, also rund hundert Stunden, damit jedes Kind einen Anzug hat, und noch ist kein Strumpf geflickt und keine Unterwäsche. Für sich selber muss sie aus allen möglichen Resten Strümpfe nähen , weil sie nur noch Löcher an den Beinen hat. Ihre Hände sind inzwischen so rissig und blutig, dass ihr jeder Stich wehtut. Und das Schlimmste: Sie hat keinen Kaffee mehr. Am liebsten ist ihr Nescafé. Sie schwört auf das legendäre, darin enthaltene Pervitin (ein dem Adrenalin verwandtes Methamphetamin, mit dem die Nazis ihre Truppen auf dem Westfeldzug aufputschten), aber nun ist auch der letzte Rest aufgebraucht, der Kaffee von Linda, der von der Familie Hirth und auch der von Heinrich – schickst du mir ein halbes Pfund? Und dazu am besten auch noch einen Tauchsieder, der in Grainau ganze 100 Mark mehr als in Hannover kostet! Ohne Kaffee geht gar nichts, ohne Kaffee
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