Die Lieben meiner Mutter
Offenbar hat er nie etwas dagegen unternommen, dass der eine oder andere seiner Freunde ein Wochenende bei seiner Frau verbrachte – mit den absehbaren Folgen. Tatsächlich hat Horst ihr erst nach Heinrichs Ermahnungen endlich einen langen Brief geschrieben. Sie sei so dankbar für diese Begegnung, schreibt sie ihrem Heinrich, dir nimmt sie nichts, mein Lieber, wir sind so fest miteinander verbunden und gehören zusammen.
Kannes sein, dass Heinrich die Eskapaden seiner Frau nicht etwa nur geduldet, sondern sie sogar gefördert hat? Fand er nichts dabei oder gehorchte er einer Zwangslage, die von ihm verlangte, seine Frau nicht nur mit Geld und Lebensmitteln, sondern auch mit Liebhabern zu versorgen? Gisela Deus vermutet, dass der Vater früh erkannt hatte, dass seine Frau unter Depressionen litt. Dass er fürchtete, seine Frau könnte als Mutter ganz ausfallen, wenn sie sich »diesen Reichtum« mit ihren Liebhabern nicht mehr gönnte. Dass sie den »Kick« mit ihren Liebhabern brauchte, um sich für ein paar Stunden zu befreien. Und dass er seine Frau mit und trotz ihrer Krankheit liebte.
Ach, ich hasse dieses alles Sehnen, Phantasieren und Dichten verschluckende Wort »Depressionen«. Und weiß doch, dass es eine Krankheit dieses Namens gibt.
Affären mit Andreas haben nie ein Ende. Für ein Wochenende sind überraschend Linda und Andreas in Grainau aufgetaucht – nun wieder als Liebespaar.
Es waren schöne anregende Tage , schreibt die Mutter an die Oma, und wir alle waren glücklich, festzustellen, daß es noch ein paar Dinge gibt, die nicht kaputtgehen trotz allen Elends.
Natürlich sagt sie der Oma, mit der sie sich am besten versteht, wenn ein langer Postweg zwischen ihnen liegt, nicht die Wahrheit. Der nachgeholte, um ein Jahr verschobene Besuch von Linda und Andreas hat alte, vermeintlich überwundene Gefühle in ihr aufgerissen. Aber sie will sich ihren Wünschen nicht mehr unterwerfen.Nach der Abreise der beiden mobilisiert sie in einem langen Abschiedsbrief an Andreas noch einmal ihre ganze Ausdrucksfähigkeit und ihr Talent für schöne Sätze.
Was hülfe es, wenn man in eines Herzschlags Länge den Raum der Einsamkeit des Anderen durchstieße, seinen Atem um den eigenen vermehrte, seine Mängel zu den eigenen machte? Hülfe dies nicht alles nur zu dem Wissen, daß wir uns nicht halten können, daß wir voneinander lassen müssen? Denn was könnte ich sonst für dich tun, als dein Leben um den schmalen Saum des meinen wieder zu verringern, der sich so ungefragt angefügt hatte? Muß ich dich nicht lassen, da ich dich liebe? Nur: daß dies so schwer ist! Deine Zärtlichkeit ist mir ins Blut gegangen, tief hinein bis in jene Schichten, vor denen ich meist die Augen schließe. Und nun steht – wie eine überlebensgroße Statue – mächtig und erdrückend die Sehnsucht da.
Aber in ihrer Nachtrauer über das Ende ihrer großen Liebe meldet sich ein neuer Ton zu Wort. Sie will Andreas nicht mehr in die Unbedingtheit ihrer Liebe zwingen, sie will sie sich und ihm erklären – den Riss in der Tiefe aufhellen, den sie mit ihrer Auslieferung an Andreas zu heilen suchte.
Es begann schon in der Kindheit, und keine mühselig geschlafene Stunde macht es mich vergessen: daß es das nie gab! Dieses Gehaltensein der Kindheit, den glücklich bewachten Kinderschlaf, Bedingungslosigkeit der Hingabe. Und oft bin ich voller Hoffnungslosigkeit, daß es keinen gibt, der diese Wunde schließen, diese stumme Hilfe leisten könnte – ohne Betrug, denn der geforderte Ersatz ist immer Betrug. Und dann steht plötzlich jemandda wie du, und ich spür’s an deinen Händen, deinen Augen, an allem, was du verschweigst: Hier ist der, der das könnte. Und so wird die Forderung laut, überlaut, ganz gegen meinen Willen, sie übertönt mein warnendes Bewußtsein, sie übertönt alles. Und das zerbricht mich noch einmal: dieses Spüren all der offenen Stellen und das Wissen um ihre Unerfüllbarkeit.
Andreas verneigt sich vor diesen Sätzen. Ihre Zeilen, schreibt er der Mutter, hätten ihn sehr froh gemacht. Weil sie an die Wurzel der Dinge gehe und die Zusammenhänge sehe, wie sie wirklich sind.
Das ist oft schmerzvoll, aber auf die Dauer das einzig Beglückende in dieser Welt – glaube ich. Wie lange dauert es doch, bis man auch nur ein kleines Stück in der Selbsterkenntnis und seiner eigenen schicksalhaften Forderungen weiterkommt. Ich stehe seit einigen Jahren und im letzten Jahr besonders in einer sehr harten
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