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Die Lieben meiner Mutter

Die Lieben meiner Mutter

Titel: Die Lieben meiner Mutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Schneider
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Bewährungsprobe – künstlerisch wie menschlich – wenn man das überhaupt trennen kann. So ist mein Schaffen immer mehr das Ergebnis von Einsamkeit und Kampf. Das allerdings wird immer entschiedener, kompromißloser. Was du von den kosmischen Spannungen sagst, empfinde ich wie eigene Worte, und darum gebe ich dir ganz recht in der Bewertung von solchen Bindungen, die jenseits aller greifbaren Erdhaftigkeit zu Hause sind.
    Er hütet sich, seiner ehemaligen Geliebten neue Hoffnungen zu machen. Er lädt sie und ihren Mann diskret ein, sich seinen »Saul« in Hamburg anzusehen. Falls sie beide einmal in der Nähe seien.
    DerEmpfängerin dieses Briefes kann es nicht entgangen sein: Das ihr ist in Andreas’ Brief an die Stelle des du getreten.
    Im Winter 1947/48 verschlechtert sich der Gesundheitszustand der Mutter. In dem ständigen Auf und Ab zwischen Schwung und Schwäche setzt sich immer mehr ein Gleichgewicht der Niedergeschlagenheit, der Apathie durch. Wenn sie mit dem Aufräumen und Saubermachen, mit dem Kochen, Nähen, Stopfen aufhört – und sie ist nie fertig! –, sitzt sie lange reglos in der Sofaecke in der Veranda. Sie beobachtet das schwindende Licht am frühen Nachmittag, steht nicht mehr auf, um das Spektakel der vom Sonnenuntergang in Brand gesetzten Waxensteine zu bestaunen, sie bewegt sich nicht. Die lange Dämmerung wird ihr Zuhause. Ihr ist wohl, wenn die Konturen verschwimmen und sich der Schatten der Undeutlichkeit über alle Dinge legt. Sie, die so viel und unter schwierigsten Bedingungen gereist ist, will nun nicht mehr reisen, will nicht einmal mehr aus dem Haus gehen.
    Heinrich erwartet sie in Hannover, so war es verabredet, sie wollte die Kinder bei Tilla lassen und sich bei ihrem Mann erholen. Aber sobald sie die Sofaecke verlässt, fühlt sie sich schwach, unfähig, Entschlüsse zu fassen. Sie steht vom Sofa auf, wenn die Kinder aus der Schule kommen, sieht ihnen dabei zu, wie sie sich gierig auf die Rübensuppe oder auf die Bratkartoffeln stürzen, die sie vorbereitet hat. Aber sie kommt nicht an den Tisch,bringt es nicht über sich, zu essen. Ihr Ort, so hat sie es beschlossen, ist die Sofaecke. Denn eines kann sie dort in ihrer Hockstellung immer noch: träumen, ihrer Sehnsucht nachgehen, zu Papier bringen, was sie bewegt.
    Im Haus fühlt sie sich isoliert. Ihre Haushaltshilfe Tilla hat sie inzwischen im Verdacht, dass sie stiehlt. Heimlich hat sie den Koffer inspiziert, den Tilla sich für einen Besuch in Sachsen vorbereitet hat. Sie entdeckt darin mehrere Pfund Mehl, Grieß, Nudeln, Zucker, zehn Eier und eine Büchse Trockenmilch – alles Vorräte, die ihrer Meinung nach aus der Speisekammer stammen! Sie findet einen Brief, in dem sich Tillas Mutter für das Schokoladenpulver bedankt, das ihre Tochter ihr geschickt hat. Tilla muss es aus einem der Care-Pakete gestohlen haben, mit denen die Hirths die Familie versorgen. Soll sie Tilla zur Rede stellen? Zwecklos, entscheidet sie. Tilla wird ihr weismachen, dass sie alles schwarz gekauft habe, und ihre Wut anschließend an den Kindern auslassen. Auf engstem Raum mit einem Menschen zusammenzuleben, der sie belügt und betrügt, schreibt sie Heinrich, sei unzumutbar. Andererseits sei sie auf Tillas Hilfe angewiesen. Was tun?
    In den folgenden Monaten schreibt sie in immer kürzeren Abständen lange Briefe, und meistens sind es Briefe an ihren Mann. Solange sie sich nicht bewegt, hat sie immer noch die Kraft, weitreichende Pläne zu schmieden,Pläne für einen Umzug fort aus Grainau. Sie will zu ihrem Mann nach Hannover ziehen, der dort als Untermieter nur ein Zimmer zur Verfügung hat. Sie schlägt vor, fürs Erste das Nebenzimmer dazuzumieten. Sie erwägt, ob man nicht auch Hanna im Internat in Schondorf unterbringen kann, wo sie ihrem großen Bruder Gesellschaft leisten würde. Der Vater solle dort einmal anfragen. Mich könnte man für ein paar Wochen bei der Tante in Bayreuth unterbringen. Nicht die Menge der Arbeit mache ihr zu schaffen, sondern schlicht die Menge der Menschen , für die sie verantwortlich sei. Zwischendurch setzt sie ihrem Mann den Kopf zurecht, der mit einer Anstellung in Thüringen liebäugelt, weil er in Hannover keine Perspektive für sich sieht. Keinesfalls in die russische Zone, dann viel, viel lieber Grainau! Sie will ihn unbedingt und möglichst gleich besuchen, um all diese Dinge zu besprechen, sie will mit ihm in Hannover leben. Aber könnte er sie vielleicht in Grainau abholen? Sie habe Angst vor der

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