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Die Liebenden von Leningrad

Die Liebenden von Leningrad

Titel: Die Liebenden von Leningrad Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paullina Simons
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wenn ich es schaffe, fünfundzwanzig Uniformen zu nähen. Oh Mama, was hast du nur getan?«
    Tatiana verließ das Zimmer ebenfalls. Alexander saß auf dem Sofa im Flur und rauchte. Tatiana nahm sich einen Bleistift, kniete sich hinter dem Sofa auf den Boden und hob den Hafer-$ack an, damit sie markieren konnte, wie voll er noch war. Der Hafer, das Mehl, der Zucker - alles schwand rasch dahin. Plötzlich sagte Alexander: »Komm, steh auf. Das ist zu schwer für dich. Ich helfe dir.« Sie rückte beiseite und er hob die Säcke für sie an, während sie hineinschaute und sie mit einem Strich auf der Außenseite markierte.
    »Wie findest du das, Tatia?«, fragte Alexander. »Das deine Mutter zu Hause noch wie in einem eigenen Unternehmen arbeitet?«
    »Das machen doch alle so«, erwiderte Tatiana. »Der Sozialismus scheint nicht gut zu funktionieren, wenn Krieg ist.« Sie wies auf den Mehlsack.
    Nickend ergriff Alexander ihn. »Genau wie im russischen Bürgerkrieg und kurz danach. Was wird deine Mama denn jetzt tun, Tania?«
    »Ich weiß nicht. Aber was hätte Babuschka denn machen sollen? Sie hat ja nichts mehr zum Eintauschen.« Tatiana zog ihre Hand weg, die sie vorsichtig auf Alexanders gelegt hatte, und ging in die Küche, um das Geschirr abzuwaschen. Gerade als sie ins Zimmer zurückgehen wollte, kam Alexander in die Küche. Sie waren allein. Sie versuchte an ihm vorbeizukommen, aber er versperrte ihr den Weg. Seine Augen blitzten mutwillig.
    Lächelnd blieb sie einen Moment lang stehen, dann huschte sie rasch nach rechts und wieder nach links und schon war sie um ihn herum. Leise sagte sie: »Du musst schon schneller sein, Shura.« Er lachte laut.
    Nach vier Tagen verließ Alexander sie wieder und ging zurück in die Kaserne. Alle vermissten ihn.
    Allerdings blieb er noch eine weitere Woche in Leningrad. Er konnte sich zwar nicht mehr den ganzen Tag bei ihnen aufhalten, verbrachte aber die meisten Abende mit ihnen und morgens stand er um halb sieben vor der Tür und ging mit Tatiana zusammen die Rationen holen.
    Eines Morgens sagte er: »Ich habe gehört, dass Dimitri eine Schusswunde erhalten hat.«
    »Was ist passiert? Hat er gekämpft?«
    »Er hat sich selbst in den Fuß geschossen.«
    »Oh«, erwiderte Tatiana.
    Alexander legte ihr die Hand auf den Arm und sagte, Dimitri läge im Wolkow-Krankenhaus und sei für unbestimmte Zeit außer Gefecht gesetzt. »Abgesehen von dem Fuß hat er auch noch Dystrophie.« »Was ist das?«
    »Dystrophie«, erwiderte Alexander langsam und zögernd, »ist Muskelschwund, hervorgerufen durch Unterernährung.« Tatiana tätschelte ihm den Arm und sagte beruhigend: »Mach dir keine Sorgen, Shura. Das bekomme ich nicht. Ich habe gar keine Muskeln.«
    Mit Hilfe von Alexanders Rationen hielten ihre Vorräte ein wenig länger. Er bekam eine königliche Ration - achthundert Gramm Brot pro Tag, mehr als die Hälfte dessen, was sie alle zusammen bekamen. Außerdem erhielt er hundertfünfzig Gramm Fleisch, hundertvierzig Gramm Getreide und ein Pfund Gemüse.
    Tatiana war überglücklich, wenn er zum Abendessen kam und seine Lebensmittel mitbrachte. Alexander trug ihr auf, sie in sechs Portionen aufzuteilen. »Und, Tania«, sagte er, »sechs gleich große Portionen!«
    Sie hatten jetzt keine Kerzenleuchter mehr zum Eintauschen und an Geschirr besaßen sie auch nur noch die sechs Teller, von denen sie aßen. Babuschka wollte ihre alten Decken und Jacken eintauschen, aber Mama ließ es nicht zu. »Der Winter hier in der Stadt ist kalt. Wir brauchen die Decken.« Die Temperatur war bereits in der dritten Oktoberwoche unter den Gefrierpunkt gesunken. Sie hatten nur noch sechs Laken für die drei Betten und nur noch sechs Handtücher. Babuschka wollte eins der Handtücher eintauschen, aber Tatiana gab es ihr nicht und erklärte, Alexander brauche auch eins. Also ging Babuschka Maya nicht mehr über die Newa.

    Tatiana befand sich gerade im Flur, als sie hörte, wie die anderen im Zimmer erhitzt miteinander debattierten. Sie wollte schon die Tür aufmachen und den Tee hineinbringen, als Alexander auf einmal sagte: »Nein, nein, das könnt ihr ihr nicht erzählen. Das ist nicht der richtige Zeitpunkt.« Dascha erwiderte: »Aber Alexander, irgendwann muss sie es doch einmal erfahren ...« »Nicht jetzt.«
    »Was soll denn das?«, sagte Mama. »Was spielt es schon für eine Rolle, ob wir es ihr erzählen?«
    Babuschka warf ein: »Ich stimme mit Alexander überein. Sie braucht jetzt ihre ganze

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