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Die Liebenden von Leningrad

Die Liebenden von Leningrad

Titel: Die Liebenden von Leningrad Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paullina Simons
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Kraft.«
    Tatiana öffnete die Tür. »Was sollt ihr mir nicht erzählen?« Alle schwiegen.
    »Nichts, Taneschka«, erwiderte Dascha rasch und funkelte Alexander an, der die Augen niederschlug und sich hinsetzte. Tatiana hielt das Tablett mit den Teetassen, Untertellern, Löffeln und einer kleinen Teekanne in der Hand. »Was ist los?« Dascha strömten die Tränen übers Gesicht. »Oh, Tania«, sagte sie.
    »Oh, Tania, was?«
    Alle schwiegen. Niemand blickte sie an.
    »Alexander, was sollen sie mir nicht erzählen?«
    Er blickte sie an. »Dein Großvater ist gestorben, Tania«, sagte er. »Im September. An einer Lungenentzündung.«
    Das Tablett mit dem Teegeschirr fiel Tatiana aus den Händen, die Tassen zerbrachen auf dem Holzfußboden und der heiße Tee spritzte an ihre Strümpfe. Wortlos kniete Tatiana sich hin und sammelte die Scherben auf. Dann legte sie alles wieder auf das Tablett, hob es auf und ging in die Küche. Als sie die Tür hinter sich schloss, hörte sie Alexander noch sagen: »Na, seid ihr jetzt zufrieden?«
    Dascha und Alexander kamen in die Küche. Tatiana stand am Fenster und hielt sich wie betäubt am Fensterbrett fest. Dascha trat auf sie zu und sagte: »Liebes, es tut mir Leid. Komm her.«
    Sie umarmte Tatiana und flüsterte: »Wir haben ihn alle so geliebt. Wir waren so traurig!«
    Tatiana erwiderte die Umarmung ihrer Schwester. »Dascha, das ist ein schlechtes Zeichen.« »Nein, Taneschka, das stimmt nicht.«
    »Doch, es ist ein schlechtes Zeichen«, wiederholte Tatiana. »So, als ob Deda gestorben sei, weil er nicht mit ansehen konnte, was mit seiner Familie geschieht.« Alexander stand schweigend dabei.
    Am nächsten Morgen gingen Tatiana und Alexander schweigend zum Rationierungsladen und warteten auf ihr Brot. Als sie in der Schlange standen, sagte Alexander: »Ich muss morgen wieder zurück an die Front, Tania. Aber sieh mal, was ich dir mitgebracht habe.« Er zog eine kleine Tafel Schokolade aus der Tasche. Sie rang sich ein schwaches Lächeln ab und nahm sie entgegen. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Alexander zog sie an sich und hielt sie fest umschlungen. Lange stand sie da, den Kopf an seine Brust gelegt, und weinte.
    Antons Bein heilte nicht.
    Tatiana brachte ihm ein Stück von Alexanders Schokolade. Anton aß sie zwar, aber er wirkte lustlos. Sie setzte sich an sein Bett. Eine Weile lang schwiegen beide. »Tania«, sagte er schließlich, »erinnerst du dich an den vorletzten Sommer?« Seine Stimme klang schwach. »Nein«, erwiderte Tatiana. Sie erinnerte sich nur an den letzten Sommer.
    »Als du im August aus Luga zurückkamst, haben du und ich, Wolodja, Petka und Pascha im Taurischen Garten mit anderen Kindern Fußball gespielt. Du hast mir fest gegen das Schienbein getreten, um an den Ball zu kommen. Ich glaube, es war dasselbe Bein.« Ein leises Lächeln huschte über Antons Gesicht.
    »Das stimmt«, erwiderte Tatiana leise. »Ach, Anton ...« Sie ergriff seine Hand. »Dein Bein heilt bestimmt bald und nächsten Sommer gehen wir wieder in den Taurischen Garten und spielen Fußball.«
    »Ja«, sagte er, drückte ihre Hand und schloss die Augen. »Aber nicht mehr mit deinem Bruder. Und auch nicht mit meinen Brüdern.«
    »Nur du und ich, Anton«, flüsterte Tatiana. »Nein, ich auch nicht«, wisperte er.
    Die anderen warten auf dich, wollte Tatiana ihm sagen. Sie warten darauf, dass du wieder mit ihnen Fußball spielst. Und mit mir.

    Tatiana ging immer um halb sieben aus dem Haus, um die Rationen abzuholen, so dass sie mit ein wenig Glück um acht, wenn die Bomber über die Stadt flogen und die Sirenen heulten, wieder zurück war. Doch entweder begann die Bombardierung mittlerweile früher oder Tatiana war zu spät, denn an drei Morgen hintereinander geriet sie in Luftangriffe, während sie sich noch auf der Nekrasowa befand.
    Weil sie es Alexander versprochen hatte, lief sie am dritten Morgen in den Luftschutzkeller irgendeines Gebäudes und saß dann dort, ihr kostbares Brot an die Brust gedrückt und den Helm auf dem Kopf, den zu tragen sie ihm ebenfalls versprochen hatte.
    Das Brot, das Tatiana bei sich hatte, war nicht besonders köstlich, aber es roch trotzdem nach Brot. Eine halbe Stunde lang wurde sie von den anderen im Keller mit Blicken durchbohrt und schließlich sagte eine alte Frau: »Komm schon, Mädchen, teil mit uns. Gib uns einen Bissen davon.« »Es ist für meine Familie«, erwiderte Tatiana. »Wir sind zu fünft, lauter Frauen. Sie warten darauf. Wenn

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