Die Liebenden von Leningrad
ihre Brust, um ein Stöhnen zu unterdrücken.
»Ja«, sagte Dascha mit gebrochener Stimme. »Aber ich will, dass er mich so liebt, wie er dich liebt.« Tatiana antwortete nicht. Sie lauschte auf das Knistern des Holzes im Ofen und fragte sich, wie lange das Stuhlbein wohl noch brennen würde. »Er liebt mich nicht«, sagte sie schließlich leise. »Wie kann er mich lieben, wenn er dich heiraten will?«
»Sag mir, wie lange du es schon vor mir geheim gehalten hast«, forcierte Dascha.
Ach Dascha ... »Ich habe nichts vor dir geheim gehalten, Liebes.«
»Oh, Tania. Wie ist es möglich, dass du in einer solchen Zeit, dem Tod so nahe, immer noch die Kraft hast zu lügen? Und warum habe ich immer noch die Kraft, wütend zu sein? Ich kann nicht einmal mehr aufstehen. Und trotzdem gibt es noch Wut und Lügen.«
»Gut«, erwiderte Tatiana, »der Zorn wärmt dich. Also hasse mich, wenn es dir dann besser geht. Hass mich mit aller Macht, wenn es dir hilft.«
»Sollte ich dich denn hassen?« Daschas Lippen bewegten sich kaum. »Habe ich denn Grund dazu?«
»Nein«, erwiderte Tatiana und drehte sich zur Wand. Lügen bis zur letzten Minute.
Am nächsten Tag konnte Dascha immer noch nicht aufstehen. Tatiana zog ihr die Decken und die Mäntel weg, doch es nutzte nichts. Es war neun Uhr und die Mädchen hatten wieder einmal geschlafen, bis die Sirenen sie um acht Uhr früh geweckt hatten.
Schließlich ging Tatiana allein zum Laden. Sie kam gegen Mittag dort an und musste feststellen, dass es kein Brot mehr gab. Es war nur eine kleine Lieferung gekommen, und um acht Uhr morgens war schon alles weg gewesen.
»Haben Sie denn nichts anderes, das Sie mir geben können?«, fragte Tatiana die Frau hinter der Theke. Aber die Frau antwortete noch nicht einmal.
Tatiana machte sich auf den Weg zu dem einzigen Menschen, der ihr helfen konnte.
Zu dem Wachtposten am Tor der Kaserne sagte sie: »Ich möchte zu Hauptmann Below. Ist er hier?«
»Below?« Der Wachtposten, den Tatiana noch nie zuvor gesehen hatte, sah im Dienstplan nach. »Ja, er ist hier. Aber ich kann niemanden nach ihm schicken.«
»Bitte«, sagte Tatiana. »Bitte! Wir haben heute kein Brot bekommen und meine Schwester ...«
»Glauben Sie etwa, der Hauptmann hat Brot für Sie? Verschwinden Sie von hier!«
Tatiana rührte sich nicht von der Stelle. »Er ist mit meiner Schwester verlobt«, sagte sie.
»Na, großartig«, erwiderte der Wachtposten. »Warum erzählen Sie mir nicht Ihre ganze Lebensgeschichte?« »Wie heißen Sie?«, fragte sie.
»Obergefreiter Kristoff«, antwortete er. »Obergefreiter.« »Sehr gut, Obergefreiter«, sagte Tatiana. »Ich weiß, dass Sie Ihren Posten nicht verlassen dürfen. Aber können Sie mich denn bitte hineinlassen, damit ich zum Hauptmann gehen kann?«
»Sie in die Kaserne hineinlassen?«, fragte er ungläubig. »Sind Sie verrückt?« »Ja«, erwiderte Tatiana und hielt sich am Tor fest. Sie fürchtete, im nächsten Moment zusammenzubrechen. Der Weg war so weit gewesen ... Aber ohne etwas zu essen für ihre Schwester würde sie nicht nach Hause gehen. »Ja, ich bin verrückt. Aber ich bitte Sie ja nicht um Ihr Essen. Ich bitte Sie ja nicht einmal darum, sich von Ihrem Posten zu entfernen. Ich bitte Sie nur darum, mich zu Hauptmann Below zu lassen. Das ist doch nicht zu viel verlangt, oder? Bitte, helfen Sie mir.« »Hör mal zu, Mädchen, ich habe keine Lust mehr, mit dir zu reden«, sagte Kristoff und nahm sein Gewehr von der Schulter. »Verschwinde von hier. Hast du verstanden?« Tatiana war zu schwach, um mit dem Kopf zu schütteln. Nur ihre Lippen bewegten sich. »Obergefreiter Kristoff, ich werde hier warten. Feldwebel Petrenko, Leutnant Marasow, Major Stepanow - sie alle kennen mich. Sagen Sie denen ruhig, dass Sie die Schwester der sterbenden Verlobten von Hauptmann Below weggeschickt haben.«
»Willst du mir etwa drohen?«, fragte Kristoff und hob sein Gewehr.
»Obergefreiter!« Ein Offizier kam über den Hof. »Was ist hier los? Gibt es Probleme?«
»Ich habe dem Mädchen nur gerade gesagt, es soll hier verschwinden, Genosse Leutnant«, sagte Kristoff. Der Offizier blickte Tatiana an. »Wen suchen Sie?«, fragte er. »Hauptmann Below, Genosse Leutnant«, erwiderte Tatiana. Der Offizier wandte sich an Kristoff. »Hauptmann Below ist oben. Haben Sie ihn gerufen?« »Nein, Genosse Leutnant.« »Öffnen Sie das Tor.«
Der Offizier zog Tatiana herein. »Kommen Sie. Wie heißen Sie?«
»Ich bin Tatiana.«
»Tatiana
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