Die Liebenden von Leningrad
»Was?«, fragte Tatiana erschreckt nach. Aber dann fügte sie rasch hinzu: »Du irrst dich. Er gibt sie dir, damit du überlebst.« »Oh, Tania.«
»Nichts >oh Tania<. Warum bist du mir zur Post gefolgt?« »Ich hatte Schuldgefühle, weil ich nichts an Babuschka geschrieben habe. Sie wird sich immer auf meine Nachrichten freuen, weil deine Briefe so deprimierend sind. Du kannst die Wahrheit eben nicht so gut verbergen wie ich. Zumindest habe ich das immer gedacht«, sagte Dascha. »Also habe ich ihr ein paar fröhliche Zeilen geschrieben. Und ich bin euch nicht gefolgt. Ich habe euch erst bei der Post gesehen.« Tatiana stand auf und legte ein weiteres Stuhlbein aufs Feuer. Es würde zwar nicht für den ganzen Abend ausreichen, aber sie mussten Holz sparen.
Dann trat sie zurück ans Bett, zog die Decken und Mäntel über Dascha und kletterte über sie hinweg an ihren Platz, Am liebsten hätte sie sich zur Wand gedreht, aber das tat sie nicht. Nach ein paar Minuten wandte sich Dascha langsam zu ihr herum. »Ich wünschte, er würde an der Front sterben«, flüsterte sie.
»Sag so etwas nicht«, erwiderte Tatiana. Am liebsten hätte sie sich bekreuzigt, aber sie vermochte ihren kalten Arm nicht unter der Decke hervorzuziehen. Bald würde das Feuer erlöschen und es würde wieder dunkel werden im Zimmer. Dascha fuhr fort: »Ich habe bemerkt, wie ihr euch angesehen habt.«
»Daschenka, wovon redest du denn? Ich weiß nicht, was du meinst.«
»Er stand unten an der Treppe und du standest auf der zweiten Stufe. Er hat dich festgehalten, als du ausgerutscht bist. Er sagte etwas und du hast genickt. Und dann habt ihr euch angesehen. Du bist die Treppe hochgegangen und er blickte dir von unten aus nach. Ich habe alles gesehen.« »Dascha, Liebling, du machst dir unnötige Gedanken.« »Tatsächlich? Tania, sag mir, wie lange bin ich schon so blind?«
Tatiana schüttelte wortlos den Kopf.
»War ich von Anfang an blind? Von dem Tag an, als ich ins Zimmer trat und du vor ihm standest? Die ganze Zeit? Oh Gott, sag es mir!« »Du bist verrückt.«
»Tania, ich mag ja blind sein, aber ich bin nicht dumm. Ich habe noch nie einen solchen Ausdruck in seinen Augen gesehen. Er hat dir mit so viel Sehnsucht, so viel Zärtlichkeit, so viel Liebe nachgeschaut, dass ich wegsehen musste. Wenn ich etwas im Magen gehabt hatte, hätte ich mich auf der Stelle übergeben müssen.«
Leise wiederholte Tatiana: »Du irrst dich.« »Ach ja? Und was lag in deinen Augen, als du ihn dort angesehen hast, Schwester?«
»Ich weiß nicht, was du meinst. Er hat mich dorthin begleitet. Dann hat er sich verabschiedet und ich bin die Treppe hochgegangen. Es lag wohl ein Abschiedsgruß in meinem Blick.« »Nein, Tania.«
»Dascha, hör auf. Ich bin deine Schwester.«
»Ja. Aber er schuldet mir nichts.«
»Er beschützt mich nur ...«
»Nein, Tania. Er liebt dich.«
»Nein.«
»Warst du mit ihm zusammen?« »Was soll die Frage?«
»Antworte mir. Es ist nur eine einfache Frage. Warst du mit Alexander zusammen? Hast du mit ihm geschlafen?«
»Dascha, natürlich nicht! Sieh mal, das ist...«
»Du hast mich schon so oft angelogen. Lügst du jetzt auch?«
»Ich lüge nicht.«
»Wann - damals? Heute?«
»Damals nicht und jetzt auch nicht«, stieß Tatiana mühsam hervor.
»Ich glaube dir nicht.« Dascha schloss die Augen. »Oh Gott, ich kann es nicht ertragen«, flüsterte sie. »Ich kann es wirklich nicht ertragen. All diese Tage, diese Nächte, diese Stunden, die wir zusammen verbracht haben ... Wir haben im selben Bett geschlafen und aus derselben Schüssel gegessen - wie kann das denn alles eine Lüge gewesen sein?«
»Es war keine Lüge! Dascha, er liebt dich. Denk doch daran, wie er dich küsst! Wie er dich berührt. Und hat er nicht - mit dir geschlafen?« Tatiana bekam die Worte kaum heraus. »Mich geküsst... Mich berührt... Wir waren seit August nicht mehr zusammen. Wie kommt das?« »Dascha, bitte ...«
»In der letzten Zeit ist es nicht mehr so interessant, mich anzufassen«, sagte Dascha. »Und dich auch nicht.«
»Diese Zeit wird vorübergehen.« »Ja, und ich mit ihr.« Dascha hustete. »Sag so etwas nicht.«
»Tania, was wirst du tun, wenn ich tot bin? Wird es dann leichter für dich?«
»Hör doch auf. Du bist meine Schwester ...« Tatiana hätte beinahe geweint. »Ich bin nicht weggegangen. Ich bin hier bei dir geblieben. Ich habe dich nicht verlassen. Wir sterben nicht. Er liebt dich.« Tatiana drückte die Hände auf
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