Die Liebenden von Leningrad
verkauft oder verbrannt.« »Alles?«, fragte er.
»Ich habe ... die Bücher ...« Sie brach ab. »Nimm sie mit«, sagte Alexander. »Und wenn du gar nicht mehr weiterweißt, dann schneide den Schutzumschlag des Puschkin-Bandes auf.« Er kroch unter das Bett, um die Bücher hervorzuholen, und Tatiana packte sie in Paschas alten Rucksack. Dann hob Alexander Dascha hoch und zwang sie, sich hinzustellen. Er trug sie aus der Wohnung, und sie rutschten die Treppe hinunter. Die Stille wurde nur durch Daschas gelegentliches Stöhnen und Husten unterbrochen. Draußen in der bitterkalten Nacht legte Alexander Dascha auf den Schlitten und deckte sie mit der Decke zu. Dann ergriffen Alexander und Tatiana die Schnur und zogen Dascha auf dem blauen Schlitten mit den hellroten Kufen durch die Straßen. »Was wird aus Dascha?«, fragte Tatiana leise. »In Kobona gibt es zu essen und ein Krankenhaus. Sobald es ihr besser geht, fahrt ihr nach Molotow.« »Es geht ihr nicht gut.« Alexander antwortete nicht.
»Warum hustet sie so?«, fragte Tatiana und musste selbst husten.
Alexander schwieg.
»Ich habe schon lange nichts mehr von Babuschka gehört.« »Es geht ihr bestimmt gut. Sie ist zumindest besser dran als ihr «, erwiderte Alexander. »Ist es nicht zu schwer für dich, den Schlitten zu ziehen? Geh einfach neben mir her und lass den Schlitten los.«
»Nein.« Es kostete sie eine gewaltige Anstrengung. »Ich will dir helfen.«
»Spar deine Kräfte.« Tatiana ließ gehorsam das Seil los.
»Halte dich an meinem Arm fest«, sagte Alexander.
Die Nacht war so kalt, dass Tatiana bald schon ihre Füße nicht mehr spürte. Leningrad lag still und fast völlig dunkel da.
Tatiana warf einen Blick auf Dascha.
»Sie kommt mir so schwach vor«, sagte Tatiana.
»Sie ist auch schwach.«
»Wie schaffst du das nur?«, fragte sie leise. »Wie schaffst du es nur, deine Waffe zu tragen, Wache zu stehen, zu kämpfen und für uns alle stark zu sein?«
»Ich gebe dir einfach das, was du am meisten von mir brauchst«, erwiderte Alexander und sah sie an. Schweigend trotteten sie durch den Schnee. Als Alexander langsamer wurde, nahm Tatiana ihm das zweite Seil aus der Hand. Er protestierte nicht.
»Es geht mir besser, wenn ich weiß, dass ihr beide aus Leningrad fort seid. Wenn ich weiß, dass du in Sicherheit bist«, sagte er schließlich. »Glaubst du nicht, dass dann alles besser ist?« Tatiana antwortete nicht. Besser in Bezug auf Lebensmittel. Besser für Dascha, ja. Aber nicht besser für Alexander und auch nicht besser für sie. Doch sie schwieg. Und dann hörte sei sein leises »Ich weiß«. Am liebsten hätte sie geweint, aber es ging nicht. Ihre vom Frost und vom Wind entzündeten Augen waren trocken.
Als sie eine Stunde später an der Kaserne ankamen, war der Armeelaster bereit zum Abfahren. Alexander hob Dascha unter die Plane. Auf dem Boden saßen sechs Soldaten, und neben einem Mann, der nahezu leblos schien, hockte eine junge Frau mit einem Säugling. Der Mann sieht noch viel schlimmer aus als Dascha, dachte Tatiana, aber dann merkte sie, dass ihre Schwester nicht aufrecht sitzen bleiben konnte. Jedes Mal, wenn Alexander sie hinsetzte, sank sie zur Seite. Auch Tatiana konnte nicht ohne Hilfe in den Lastwagen klettern. Sie war zu schwach dazu. Jemand musste sie hochheben, aber niemand kümmerte sich darum, selbst Alexander nicht, der die ganze Zeit versuchte, Dascha wach zu bekommen. Drinnen schrie jemand: »Losfahren!«, und der Lastwagen setzte sich langsam in Bewegung. »Shura!«, schrie Tatiana.
Alexander kroch nach hinten zur Klappe, packte Tatiana an beiden Armen und zog sie hoch.
»Hast du mich vergessen?«, fragte sie, aber dann sah sie, dass Dascha die Augen geöffnet hatte und sie beobachtete. Schweigend begannen sie die Fahrt zum Ladogasee. Alexander saß auf dem Boden neben seinem Gewehr. Dascha lag auf dem mit Sägemehl bedeckten Boden, den Kopf auf seinem Schoß. Tatiana ergriff die Füße ihrer Schwester und legte sie sich über die Beine.
Die Zeit verging. In einem gelegentlich aufflackernden Scheinwerferlicht sah Tatiana, dass Alexander sie anblickte. Sie erwiderte seinen Blick, bis das entgegenkommende Fahrzeug vorbeigefahren war und es wieder dunkel wurde. Ohne ein Wort zu sagen, ohne einander zu berühren, verharrten sie auf dem Boden und sahen sich an. Endlose Minuten verstrichen. »Weißt du, wie spät es ist?«, fragte Tatiana leise. »Zwei Uhr morgens. Wir sind bald da«, erwiderte Alexander. Tatiana
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