Die Liebenden von Leningrad
hätte gern etwas gegessen, und ihr war kalt. Ihre Augen hatten sich mittlerweile an die Dunkelheit gewöhnt. Sie sah Alexanders Silhouette, seinen Kopf und seine Mütze und dass er die Arme um Dascha geschlungen hatte, um sie warm zu halten. Tatiana kniff in Daschas Beine, zuerst vorsichtig, dann fester. Dascha bewegte sich leicht und hustete. Erleichtert schloss Tatiana die Augen, riss sie aber sofort wieder auf. Bald würden sie über das Eis des Ladogasees fahren, weg von Alexander. Wenn ich den Arm ausstrecke, kann ich ihn fast berühren, dachte sie.
»Tania?« »Ja, Alexander?«
»Wie heißt der Ort, in dem deine Großmutter jetzt wohnt?« »Lazarewo. Es liegt in der Nähe von Molotow.« Sie streckte ihm ihre Hand entgegen und er erhob die seine. »Lazarewo.« Wieder glitt ein Lichtstrahl über sie hinweg. Alexander und Tatiana berührten einander. Dann wurde es wieder dunkel.
Alexander schlief ein. Auch Dascha schlief. Alle Leute im Laster hatten die Augen geschlossen, nur Tatiana blieb wach. Sie konnte den Blick nicht von Alexander abwenden. Vielleicht bin ich ja tot, dachte sie. Tote Leute können ihre Augen auch nicht schließen. Vielleicht kann ich deshalb nicht schlafen. Ich bin tot. Sie musste ihn einfach die ganze Zeit über ansehen. Seine Hände lagen auf Daschas Kopf. »Alexander, warum kaufst du dir nicht auch ein Eis?« »Ich möchte keins.«
» Warum schaust du dann so sehnsüchtig auf mein Eis?«
»Ich schaue nicht sehnsüchtig auf dein Eis.«
»Nein? Möchtest du mal probieren?«
»Ja.« Er beugte sich zu ihr und leckte an ihrem Eis.
»Ist es nicht gut?«
»Sehr gut, Tania.«
Endlich hielt der Lastwagen. Alexander öffnete die Augen. Auch die anderen Leute rührten sich. Die Frau mit dem Säugling stand als Erste auf und flüsterte ihrem Mann zu: »Leonid, komm, Lieber, wir sind da. Steh auf, Liebling.« Alexander stand ebenfalls auf und reichte Tatiana die Hand. »Na komm, Tatia«, sagte er leise. »Es ist Zeit.« Er zog sie hoch. Sie schwankte vor Schwäche.
»Shura«, sagte sie, »was soll ich in Kobona mit Dascha machen? Sie kann nicht gehen. Und ich bin nicht du, ich kann sie nicht tragen.«
»Mach dir keine Sorgen. Dort sind Soldaten und Ärzte, die dir helfen. Sieh dir diese Frau an«, flüsterte er ihr zu. »Sie trägt ihr Kind, aber ihr Mann kann sich nicht mehr auf den Beinen halten, genau wie Dascha. Aber sie wird es auch schaffen, du wirst schon sehen. Komm, ich helfe dir herunter.«
Er sprang aus dem Laster und streckte die Arme nach Tatiana aus. Selbst wenn sie gewollt hätte, hätte sie nicht springen können, also hob er sie herunter. Er ließ sie nicht los. »Hol Dascha, Shura«, flüsterte Tatiana. Dabei wäre sie am liebsten für immer bei ihm stehen geblieben. »Na macht schon!«, schrie der Feldwebel hinter ihnen. Alexander ließ Tatiana los und drehte sich wütend um. Der Feldwebel entschuldigte sich hastig bei dem Hauptmann. Tatiana registrierte vier weitere Lastwagen, deren Scheinwerfer ein schneebedecktes Feld anstrahlten. Doch dann merkte sie, dass es gar kein Feld war. Es war der Ladogasee. Die Straße des Lebens.
»Kommt, kommt, Genossen! Geht zum See hinunter. Dort wartet ein anderer Lastwagen auf euch. Kommt schon, je schneller ihr da seid, desto schneller können wir losfahren. Es sind dreißig Kilometer, ein paar Stunden auf dem Eis, aber auf der anderen Seite gibt es Butter und vielleicht sogar Käse. Beeilt euch!«
Die Frau mit dem Säugling auf dem Arm ging bereits den Hügel hinunter. Ihr Mann humpelte neben ihr her. Alexander hielt Dascha auf den Armen. »Stell sie hin, Shura«, sagte Tatiana. »Wir versuchen sie zum Gehen zu bringen.« Er stellte Dascha hin, aber ihre Beine gaben sofort nach. »Komm, Dascha«, drängte Tatiana. »Geh mit mir. Auf der anderen Seite gibt es Butter, hast du nicht gehört?« Dascha öffnete stöhnend die Augen. »Wo bin ich?«, flüsterte »An der Straße des Lebens. Jetzt komm. Gleich erhalten wir etwas zu essen, und es wird uns besser gehen. Und ein Arzt wird sich um dich kümmern.«
»Kommst du mit uns?«, fragte Dascha Alexander.
Er stützte sie. »Nein, Dascha, ich muss hier bleiben. Mein Zenith steht da oben. Aber sobald du in Molotow bist, schreibst du mir, und wenn ich Urlaub habe, komme ich dich besuchen«, sagte Alexander, ohne Tatiana anzublicken.
Dascha ging ein paar Schritte ohne Hilfe und sank dann in den Schnee. »Ich kann nicht.«
»Du kannst, wenn du nur willst«, sagte Tatiana. »Komm, zeig
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