Die Liebenden von Leningrad
hat?«
Mit größter Mühe unterdrückte Tatiana ein gequältes Stöhnen. »Ein gutes«, erwiderte sie rau. »So sollte es sein.« »Warum hast du dich denn dann zusammengekrümmt, als seiest du geschlagen worden?«
»Ich weiß nicht, was du meinst«, entgegnete Tatiana mit schwacher Stimme. »Mach deine Augen auf!« »Nein.«
»Du liebst ihn unsäglich, nicht wahr? Wie ist es dir bloß gelungen, das vor mir zu verbergen, Tania? Du hast noch nie einen Mann mehr geliebt als ihn.«
Ich habe noch nie einen Mann mehr geliebt als ihn. »Dascha«, sagte Tatiana schließlich, »dich liebe ich mehr.« Sie hielt ihre Augen fest geschlossen.
»Du hast es auch gar nicht wirklich vor mir verborgen«, sagte Dascha. »Kein bisschen. Du hast deine Liebe offen gezeigt. Marina hatte Recht. Ich war nur blind.« Sie schloss ebenfalls die Augen, aber ihre Stimme war laut und deutlich im Lastwagen zu vernehmen. »Ich hätte es überall sehen können. Doch ich sehe es erst jetzt.«
Sie begann zu weinen und bekam einen Hustenanfall. »Aber du warst doch noch ein Kind! Wie kann denn ein Kind jemanden lieben?« Dascha stöhnte auf.
Ich bin erwachsen geworden, Dascha, dachte Tatiana. Irgendwann zwischen dem Ilmensee und dem Kriegsausbruch ist das Kind erwachsen geworden. In der Ferne grollten die Kanonen, und die Granaten pfiffen. Im Lastwagen war es still. Tatiana machte sich Gedanken über den Säugling, den die Frau im Arm hielt. Es war eine junge Frau mit fahler Haut und offenen Geschwüren auf den Wangen. Ihr Mann lehnte an ihrer Schulter und sackte ständig vornüber. Die Frau begann zu weinen. Der Säugling gab keinen Laut von sich. Tatiana fragte die Frau: »Kann ich Ihnen helfen?« »Du hast deine eigenen Probleme«, gab die Frau ihr barsch zur Antwort. »Mein Mann ist sehr schwach.« Dascha sagte: »Ich bin kein Problem. Zieh mich hoch, Tania, und lehn mich gegen die Wand. Mein Brustkorb tut zu weh, wenn ich liege. Und dann hilf ihr.«
Tatiana schüttelte den Mann leicht und schob ihn hoch, aber er sank wieder zur Seite. Er war dick vermummt in einen Schal, und sein Mantel war bis zum Hals zugeknöpft. Tatiana brauchte lange, bis sie die Knöpfe geöffnet hatte. Dabei redete die Frau ununterbrochen auf sie ein.
»Meinem Mann geht es nicht gut. Und meiner Tochter auch nicht. Ich habe keine Milch für sie. Sie ist im Oktober geboren, weißt du! Ist das nicht ein Pech für ein Kind, im Oktober geboren worden zu sein? Und dabei waren wir so glücklich, als ich im Februar schwanger wurde! Wir waren so aufgeregt. Unser erstes Kind! Leonid hat bei den städtischen Verkehrswerken gearbeitet, er brauchte nicht an die Front und seine Ration war ausreichend, aber dann fuhren die Bahnen und Busse nicht mehr, und er hatte nichts mehr zu tun - warum knöpfst du ihm den Mantel auf?«
Ohne auf eine Antwort zu warten, fuhr die Frau fort: »Ich bin Nadeschda. Ich hatte keine Milch für meine Tochter, als sie zur Welt kam. Was sollte ich ihr geben? Ich habe ihr Sojamilch gefüttert, aber davon bekam sie schrecklichen Durchfall, also musste ich damit aufhören. Und mein Mann brauchte auch etwas zu essen. Gott sei Dank durften wir schließlich auf den Lastwagen. Wir haben so lange darauf gewartet! Jetzt wird alles wieder gut. In Kobona gibt es Brot und Käse, hat jemand gesagt. Ich möchte für mein Leben gern mal wieder Hühnchen oder etwas Heißes essen. Ich würde sogar Pferdefleisch essen, das würde mir nichts ausmachen. Ich brauche nur auch etwas für Leonid.«
Tatiana nahm ihre zwei Finger von der Halsschlagader des Mannes, knöpfte ihm sorgfältig den Mantel wieder zu und wickelte ihm den Schal um den Hals. Sie schob ihn ein wenig zur Seite, damit er nicht mehr über den Beinen seiner Frau lag, und setzte sich wieder neben Dascha. Im Lastwagen war es totenstill. Sie hörte nur Daschas flache Atemzüge und ihr Husten. Das - und Alexanders Worte, dass er sie nie geliebt habe. Beide Schwestern schlössen die Augen, damit sie die Frau, ihr totes Kind und den toten Mann nicht sehen mussten. Tatiana legte ihre Hand auf Daschas Kopf, und Dascha ließ es geschehen. Bei Tagesanbruch erreichten sie Kobona. Tatiana fiel auf, dass Daschas Atem auf einmal rasselnd ging. »Kannst du aufstehen, Dascha?«, fragte sie. »Wir sind da.« »Nein«, hauchte Dascha. »Ich kann nicht.« Nadeschda schrie nach jemandem, der ihr und ihrem Mann helfen sollte. Niemand kam. Nur ein Soldat hob die Plane und grunzte: »Los, alle aussteigen. Wir müssen abladen und
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