Die Liebenden von Leningrad
bis sie gestorben ist und ich ihn für mich beanspruchen konnte.« »Tania, was hast du denn für Gedanken? Ich habe immer nur dir gehört«, erwiderte er verwirrt. »Ich habe nie zu Dascha gehört. « Er ergriff ihre Hand. »Selbst während der Blockade nicht?«, fragte sie. »Ganz genau. Das Wenige, was ich hatte, sollte nur für dich sein. Du hast immer allen gehört. Aber ich nur dir.« So viel ging Tatiana jetzt durch den Kopf ... War alles richtig gewesen? Hatte sie das Richtige getan? »Egoistisch!«, murmelte sie. »Egoistisch bis zum Schluss! Dascha ist tot, und ich nehme ihren Platz ein. Heimlich trete ich an ihre Stelle, weil ich Vovas Gefühle nicht verletzen will, weil ich Naira oder den anderen ihre Illusionen über mich nicht nehmen will ... Shura«, flüsterte sie. »Ja, Tatia?«
»Bist du dir ganz sicher? Du musst es nicht wegen mir tun.« »Ich bin mir ganz sicher.« Er beugte sich zu ihr. »Als Ehemann habe ich schließlich gewisse ... unveräußerliche Rechte, die mir niemand nehmen kann.« »Ich meine es ernst.«
Er küsste ihr die Hand. »Ich war mir noch nie sicherer.«
Und sie wusste: Wenn Alexander Dascha von Anfang an die Wahrheit gesagt hätte, dann hätte er fortgehen müssen. Sie hätte ihn verloren und Dascha auch.
Sie hätte nicht mehr mit ihrer Schwester zusammenleben können, in dem Wissen, dass Dascha - mit ihren Brüsten, ihren Haaren, ihren Lippen und ihrem großen Herzen - dem Mann, den sie liebte, nicht genug gewesen war. Die Wahrheit hätte Tatianas Familie zerstört.
Tatiana warf Alexander, der geduldig wartend und ohne jeden Zweifel dastand, einen Blick zu. Die Sonne fiel durch die Buntglasfenster der Kirche, und es roch ganz schwach nach Weihrauch. Dusia hatte sie in Lazarewo mit in die Kirche genommen, und Tatiana war jeden Abend bereitwillig mitgegangen, um dort zu beten, wie Dusia es ihr beigebracht hatte. Als Kind war sie eines Sommers in Luga einmal sehr verunsichert gewesen und hatte nicht mehr ein noch aus gewusst. Da hatte ihr geliebter Deda zu ihr gesagt: »Stell dir diese drei Fragen, Tatiana Metanowa, und du weißt, wer du bist. Frage: Woran glaube ich? Was erhoffe ich? Am wichtigsten ist jedoch die Frage: Was liebe ich?«
Sie blickte Alexander an. »Wie hast du es genannt, Shura?«, fragte sie leise. »In unserer ersten Nacht hast du gesagt, du und ich, wir besäßen etwas ...« »Kraft zum Leben«, erwiderte er.
Ich weiß, wer ich bin, dachte sie, ergriff seine Hand und wandte sich zum Altar. Ich bin Tatiana. Und ich glaube an Alexander, hoffe auf ihn und liebe ihn um des Lebens willen.
»Seid ihr bereit, meine Kinder?« Vater Michail kam durch den Mittelgang auf sie zu. »Wartet ihr schon lange?« Er stellte sich vor den Altar. Der Juwelier und Sofia traten neben sie. Tatiana fragte sich, ob sie die Flasche Wodka wohl schon ausgetrunken hatten.
Vater Michail lächelte. »Heute ist dein Geburtstag«, sagte er zu Tatiana. »Diese Hochzeit ist ein hübsches Geburtstagsgeschenk für dich, nicht wahr?« Sie drückte sich an Alexander.
»Manchmal möchte ich verzweifeln, weil Gott in diesen schlimmen Zeiten kaum noch eine Rolle im Leben der Menschen spielt«, begann Vater Michail. »Aber hier in meiner Kirche ist Gott immer noch gegenwärtig, und ich kann sehen, dass Er auch bei euch ist. Ich bin sehr froh, dass ihr zu mir gekommen seid, meine Kinder. Ihr werdet vor Gott vereint, um Freude aneinander zu haben, um euch zu trösten und zu helfen in schweren wie in guten Zeiten, und wenn es Gottes Wille ist, werdet ihr auch Kinder bekommen. Seid ihr bereit, miteinander die Ehe einzugehen?« »Ja«, antworteten Alexander und Tatiana. »Das Band der Ehe wurde von Gott geschaffen. Gott selbst segnete die Ehe, indem er sein erstes Wunder auf der Hochzeit von Kanaan in Galilei tat. Eine Ehe ist das Symbol für das Geheimnis der Vereinigung zwischen Christus und Seiner Kirche. Versteht ihr, dass der Mensch nicht trennen kann, was Gott zusammengefügt hat?« »Ja«, antworteten sie. »Habt ihr die Ringe?« »Ja.«
Vater Michail hielt das Kreuz über ihre Köpfe und fuhr fort: »Gnädiger Gott, sieh mit Wohlgefallen auf diesen Mann und diese Frau, die in einer Welt leben, für die du deinen Sohn hergabst. Lass ihr gemeinsames Leben ein Zeichen sein dafür, dass Christus diese sündige Welt geliebt hat. Verteidige diesen Mann und diese Frau vor jedem Feind. Führe sie in den Frieden. Lass ihre Liebe zueinander ein Siegel auf ihrem Herzen sein, ein Mantel um ihre
Weitere Kostenlose Bücher