Die Liebenden von Leningrad
vor. Sie hatte erwartet, dass sein Bett leer war, aber nicht, dass ein neuer Patient darin lag, ein Mann ohne Arme und Beine.
Verständnislos starrte sie auf den Mann. Warum war Alexanders Bett neu belegt worden?
Ina konnte ihr auch nicht weiterhelfen. Sie wusste lediglich, dass Alexander spät in der Nacht seine Paradeuniform verlangt hatte und dann gegangen war. Vielleicht, vermutete Ina, war er in den Rekonvaleszentenflügel verlegt worden. Auch das überprüfte Tatiana, aber dort war er auch nicht. Sie lief zurück in sein altes Krankenzimmer und schaute unter Alexanders Bett nach. Sein Rucksack war nicht mehr da und auch der Orden hing nicht mehr über dem Stuhl. Geistesabwesend informierte Tatiana den Verwundeten, dass gleich ein Arzt nach ihm sehen würde, und machte sich dann auf die Suche nach Dr. Sayers.
Sie fand ihn bei den Sterbenden, wo er gerade mit einem Patienten beschäftigt war. »Dr. Sayers«, flüsterte sie, »was ist passiert? Wo ist Major Below?«
Sayers blickte kaum auf. »Würden Sie mir bitte helfen?«, bat er. Tatiana warf einen Blick auf den Patienten. Er hatte nur noch kurze Zeit zu leben. Bereitwillig legte sie ihm die Hand auf die Stirn, während der Arzt seine Wunde vernähte. Nach einer Weile sagte sie: »Er ist tot, Doktor. Sie können aufhören.« Sie begleitete den Arzt nach draußen. Es war Mitte März und recht windig. »Hören Sie, Tania«, murmelte Sayers und ergriff ihre Hände. Er war blass. »Es tut mir Leid. Etwas Schreckliches ist passiert.« Seine Stimme klang brüchig und er hatte tiefe Schatten unter den Augen.
Tatiana zog ihre Hände weg. »Was ist passiert, Doktor?«, fragte sie mit bebender Stimme.
»Es tut mir Leid, sehr Leid, aber Alexander ...« Er brach ab. »Sie haben ihn heute früh mit zwei anderen Soldaten nach Wolkow gefahren und ...« Sayers konnte nicht weiter sprechen. Tatiana erstarrte. Tonlos fragte sie: »Und was?« »Sie fuhren gerade über den See, als feindliches Feuer ... Der Jeep wurde getroffen und ist explodiert.« »Wo ist Alexander?«
»Es tut mir Leid. Von den fünf Insassen hat ... niemand überlebt.«
Tatiana wandte dem Arzt den Rücken zu. »Woher wissen Sie das, Doktor?«
»Ich wurde an den Ort des Geschehens gerufen. Wir haben versucht, die Männer zu retten, aber der Wagen ist gesunken.« Er flüsterte nur noch.
Tatiana presste die Hände auf ihren Bauch und erbrach sich in den Schnee. Ihr Puls raste. Wie durch einen Nebel hörte sie die Stimme des Arztes: »Tania ... Tania!«
Sie drehte sich nicht um. »Haben Sie ihn gesehen?«, fragte sie keuchend.
»Ja. Es tut mir Leid«, flüsterte er. »Ich habe seine Mütze ...« »War er noch am Leben?« »Es tut mir Leid, Tatiana. Nein.« Ihre Beine gaben nach. Sayers fing sie auf. »Geben Sie mir seine Mütze«, wisperte Tatiana, aber ihre Hände zitterten so sehr, dass sie sie nicht festhalten konnte. Auch der Totenschein, den Dr. Sayers ihr in die Hand drückte, fiel zu Boden.
»Wo ist er?«, fragte sie mit schwacher Stimme. »Wo ist er jetzt...« Sie brach ab.
»Oh, Tania ... was hätten wir denn tun sollen? Wir ...« Sie unterbrach ihn. »Warum haben Sie mich nicht geweckt? Warum haben Sie es mir nicht sofort gesagt?« »Tania, sehen Sie mich an.« Sayers zog sie hoch. Tränen standen ihm in den Augen. »Ich habe nach Ihnen gesucht, als ich zurückkam. Aber es war sowieso nichts mehr zu machen.« Er erschauerte. »Lassen Sie uns hier verschwinden! Wir müssen dies alles hinter uns lassen! Ich halte es nicht mehr aus, ich muss zurück nach Helsinki. Kommen Sie, wir holen unsere Sachen. Ich sage in Leningrad Bescheid. Ich will heute Abend fahren.« Er schwieg. »Wir fahren heute Abend.« Tatiana antwortete nicht. Fassungslos starrte sie auf die Todesurkunde. Sie war nicht von der Roten Armee, sondern vom Roten Kreuz ausgestellt.
»Tatiana, hören Sie mich?«, fragte Sayers eindringlich. Sie drehte sich wortlos um und eilte zum Hauptgebäude. Sie musste mit Oberst Stepanow reden! Er war beschäftigt und wollte sie zuerst nicht empfangen, aber sie wartete so lange vor seiner Tür, bis er herauskam.
»Ich muss zur Offiziersmesse. Begleiten Sie mich?« Stepanow sah Tatiana nicht an.
»Genosse Oberst«, sagte Tatiana und eilte hinter ihm her. »Was ist mit Offizier ...« Sie brachte es nicht über sich, seinen Namen laut auszusprechen.
Stepanow blieb stehen und drehte sich zu ihr um. »Das mit Ihrem Mann tut mir Leid«, sagte er sanft. Tatiana ergriff Oberst Stepanows Hand.
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