Die Liebenden von Leningrad
sind?« Tatiana spürte auf einmal überdeutlich, dass sein Arm hinter ihr auf der Rückenlehne der Bank lag. Wenn er gewollt hätte, hätte er ihre Haare ganz leicht berühren können. Aber das tat er nicht.
»Weiße Nächte sind etwas Besonderes, findest du nicht auch?«, fragte er, wobei er sie weiter unverwandt ansah.
Sie murmelte: »Sie entschädigen einen auf jeden Fall für den Winter in Leningrad.«
»Ja, der Winter hier ist ganz schön hart.«
»Manchmal, wenn im Winter die Newa zufriert, gehen wir mit dem Schlitten auf das Eis. Selbst im Dunkeln. Unter dem Nordlicht.«
»Du und wer noch?«
»Pascha, ich und unsere Freunde. Manchmal auch Dascha und ich. Aber sie ist ja viel älter und ich unternehme nicht mehr so viel mit ihr.«
Warum wies sie eigentlich ständig darauf hin, dass Dascha viel älter war als sie? Halt doch einfach den Mund, schalt Tatiana sich.
»Du musst sie sehr lieben«, sagte Alexander. »Bist du ihr genauso nahe wie Pascha?«
»Nicht genauso. Pascha und ich ...« Tatiana brach ab. Pascha und sie aßen zusammen von dem gleichen Teller. Dascha war diejenige, die ihnen das Essen kochte und ihnen den Teller brachte. »Meine Schwester und ich schlafen zusammen in einem Bett. Sie sagt mir immer, dass ich nie heiraten kann, weil sie nicht will, dass mein Mann auch noch bei uns im Bett schläft.«
Sie konnten die Blicke nicht voneinander wenden. Tatiana hoffte, dass Alexander in der goldenen Abendsonne nicht sah, wie rot sie geworden war.
»Du bist zu jung, um zu heiraten«, entgegnete Alexander. »Ich weiß«, sagte Tatiana. »Aber nicht zu jung ...« Wofür eigentlich?, fragte sie sich verwirrt. Und im gleichen Moment hakte Alexander auch schon nach: »Nicht zu jung für was?«
Sie hielt seinen bohrenden Blick kaum aus. Was würde Dascha jetzt wohl sagen?
»Nicht zu jung, um in der Freiwilligen-Armee zu dienen«, entgegnete sie schließlich. »Vielleicht sollte ich mich melden? Und du bildest mich dann aus.« Sie lachte verlegen. Alexander zuckte leicht zusammen, sagte aber: »Du bist sogar zu jung für die Freiwilligen. Sie nehmen dich erst, wenn ...« Er beendete den Satz nicht und sie blickte fasziniert auf seine bebenden Lippen. In der Mitte seiner Unterlippe war eine kleine Einkerbung ...
Auf einmal hatte Tatiana das Gefühl, nicht eine Sekunde länger auf seinen Mund blicken zu können. Sie sprang auf. »Ich muss jetzt nach Hause. Es ist schon spät.«
»Na gut«, sagte Alexander und erhob sich ebenfalls, allerdings viel langsamer. »Es war ein sehr schöner Abend.« »Ja«, stimmte sie zu, ohne ihn anzusehen. Sie gingen am Fluss entlang.
»Alexander; fehlt dir dein Amerika?« »Ja«, erwiderte er.
»Würdest du wieder dorthin zurückgehen, wenn du könntest?« »Vermutlich«, sagte er gleichmütig. »Könntest du das denn?«
Er blickte sie an. »Wie sollte ich das schaffen? Sie würden mich doch gar nicht einreisen lassen. Ich habe keinen Anspruch mehr auf meinen amerikanischen Namen.« Tatiana hätte am liebsten seine Hand ergriffen, ihn berührt, seinen Schmerz irgendwie gelindert. »Erzähl mir über Amerika«, bat sie. »Warst du jemals am Meer?« »Ja, am Atlantik, und er ist gewaltig.« »Ist er salzig?«
»Ja, und kalt und riesig, und es gibt Quallen und weiße Segelboote.«
»Ich habe auch einmal eine Qualle gesehen. Welche Farbe hat der Atlantik?«
»Grün.«
»Wie die Bäume?«
Er blickte auf die Newa und die Bäume, dann sah er Tatiana an. »So ein ähnliches Grün wie die Farbe deiner Augen.« »Also ein schmutziges Grün?«
Alexander schlug vor, durch den Sommergarten zurückzugehen. Tatiana willigte ein, doch dann fielen ihr die Liebespaare ein.
»Lass uns lieber woanders langgehen. Gibt es einen schnelleren Weg?«
»Nein.«
Als die Sonne hinter ihnen versank, warfen die großen Ulmen lange Schatten.
Sie traten durch das Tor und schritten den schmalen Pfad mit den Statuen entlang.
»Der Park sieht abends anders aus«, stellte Tatiana fest. »Warst du abends noch nie hier?«
»Nein«, gestand sie, fügte jedoch rasch hinzu: »Aber ich bin abends schon woanders gewesen. Einmal...« Alexander blickte sie an. »Tania, soll ich dir etwas sagen?« »Was?«
»Je weniger du abends ausgegangen bist, desto besser gefällt es mir.«
Sprachlos stolperte sie neben ihm her.
Er passte seinen langen Soldatenschritt ihren kleinen Schritten an, damit sie nebeneinander blieben. Es war ein warmer Abend und zweimal streifte ihr bloßer Arm den rauen Stoff seiner
Weitere Kostenlose Bücher