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Die Liebenden von Leningrad

Die Liebenden von Leningrad

Titel: Die Liebenden von Leningrad Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paullina Simons
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loszuwerden, aber es gelang ihr nicht. Als sie mit Zina durch das Fabriktor eilte und die Kirow-Mauer entlangging, hätte sie gern jemandem von ihren zwiespältigen Gefühlen und ihren Ängsten erzählt. Aber dann bemerkte sie, dass Alexander auf sie wartete, und sie vergaß all ihre Sorgen. Sie musste sich förmlich zwingen, ihm nicht entgegenzurennen. Gemeinsam überquerten sie die Straße und steuerten auf die Ulitsa Goworowa zu. »Lass uns ein Stück laufen.« Tatiana konnte es kaum glauben, dass sie nach ihrem langen Arbeitstag einen solchen Vorschlag machte. Aber in seiner Gegenwart spürte sie die Erschöpfung nicht. Sie wusste jedoch, dass sie ihn am Wochenende keine Minute für sich allein haben würde.
    Langsam schlenderten sie durch die verlassenen Straßen. Rechts von ihnen lagen Eisenbahnschienen und Felder, die Industrieanlagen von Kirow erhoben sich zu ihrer Linken. Die Sonne strahlte vom Himmel herab und weder Luftschutzsirenen noch Flugzeuge störten die Idylle. »Alexander warum ist Dima eigentlich nicht auch Offizier, so wie du?«
    Alexander antwortete nicht gleich. »Er wollte auch Offizier werden. Wir haben zusammen die Offiziersanwärterschule besucht.«
    Das hatte Tatiana nicht gewusst. Sie gab Alexander zu verstehen, dass Dimitri ihr das nicht erzählt hatte.
    »Das würde er auch nie tun. Wir gingen davon aus, dass wir die Ausbildung zusammen abschließen würden, aber leider hat Dimitri es nicht geschafft.« »Was ist passiert?«
    »Nichts ist passiert. Er konnte nur nicht lange genug unter Wasser bleiben, ohne Panik zu bekommen. Er konnte nicht lange genug den Atem anhalten. Außerdem verlor er die Nerven, wenn geschossen wurde. Beim Tausendmeterlauf war er nicht schnell genug und er konnte keine fünfzig Liegestütze auf einmal machen. Er hat es einfach nicht geschafft. Aber er ist ein guter Soldat. Ein ziemlich guter sogar«, fügte Alexander hinzu. »Er ist nur nicht dazu geschaffen, Offizier zu sein.« »Nicht so wie du«, sagte Tatiana bewundernd. Amüsiert blickte Alexander sie an und schüttelte den Kopf. »Ich bin ein viel zu wütender Kämpfer«, bekannte er. Die Straßenbahn hielt direkt vor ihnen und sie stiegen ein. »Wie kommt Dimitri damit zurecht?«
    Tatiana vermied es nicht mehr, Alexander anzustoßen, während die Straßenbahn dahinrumpelte. Mittlerweile legte sie es geradezu darauf an. Und er fing sie jedes Mal auf, indem er ihr um die Taille fasste.
    Heute Abend ließ er seine Hand auf ihrer Taille liegen. Er nickte ihr aufmunternd zu, damit sie weitersprach, aber sie war dazu nicht in der Lage.
    Also zog er die Hand weg. »Was meinst du?«, kam er auf ihre Frage zurück. »Dass er kein Offizier geworden ist?« »Ja, und vor allem damit, dass du es geschafft hast.« Die Straßenbahn hielt an. Damit sie nicht umfiel, ergriff Alexander Tatianas Arm. Sie bekam am ganzen Körper eine Gänsehaut. »Ich glaube«, sagte er, »Dimitri hat oft das Gefühl, dass mir alles zu leicht fällt.« »Wie meinst du das?«, fragte Tatiana.
    »Ich weiß nicht. Ganz allgemein. Die Armee, das Schießen ...« Er brach ab.
    Sie blickte ihn an und wartete gespannt. Was wollte er als Nächstes sagen? Was fiel ihm wohl sonst noch leicht? »Nichts ist dir in den Schoß gefallen, Alexander«, sagte Tatiana schließlich. »Du hast ein schweres Leben gehabt.«
    »Und es hat kaum erst begonnen«, sagte er leise. »Dimitri und ich kennen uns schon lange. Und wie ich Dima einschätze, wird er dir bald Dinge über mich erzählen, die du wahrscheinlich nicht glauben willst. Es überrascht mich, dass er es noch nicht getan hat.«
    »Wahre Geschichten oder Lügen?«
    »Das kann ich nicht beantworten«, erwiderte Alexander. »Manches ist bestimmt wahr und anderes wiederum ist gelogen. Dimitri hat die Gabe, Lügen mit Wahrheit zu mischen.« »Na, das ist aber eine großartige Gabe«, sagte sie. »Und wie soll ich dann erkennen, was richtig ist?« »Das kannst du nicht.« Alexander blickte sie an. »Wenn du die Wahrheit wissen willst, dann frag mich.« »Und du wirst mir immer die Wahrheit sagen?« Sie erwiderte seinen Blick. »Ja.«
    Tatiana hielt den Atem an. Ihr Herzschlag schien für einen Moment auszusetzen.
    »Hast du denn eine Frage an mich, Tania?«, fragte er sanft. Am liebsten hätte sie ihn gefragt: Liebst du mich? Das war das Einzige, was sie interessierte.
    »Nein«, erwiderte sie stattdessen und schlug die Augen nieder. »Wir sind da«, sagte Alexander, als sie am Obvodnoj-Kanal ausstiegen.
    Sie

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