Die Liebenden von Leningrad
Manöver, Gewehrtraining, Übungen im Luftschutzbunker ...« Irgendwie klang er niedergeschlagen. Sie kannte die verschiedenen Nuancen seiner Stimme schon sehr gut.
»Was ist los?«, fragte sie noch einmal. »Nichts!«, wiederholte er.
Aber dann ergriff er ihren Arm und schob ihren Ärmel ein wenig hoch, so dass die blauen Flecken auf der Unterseite zum Vorschein kamen. »Tania, was ist das?« »Nichts.« Sie versuchte, ihren Arm wegzuziehen. Aber er ließ sie nicht los.
»Es ist wirklich nichts Schlimmes!«, sagte sie nachdrücklich und wich seinem Blick aus. »Mir geht es gut.« »Ich glaube dir nicht«, beharrte Alexander. »Ich habe dir doch gesagt, du sollst dich nicht mit Dimitri einlassen.« »Ich habe mich nicht mit ihm eingelassen!«, empörte sich Tatiana. »Wirklich, es ist nichts, Alexander. Er wollte mich nur dazu bringen, mit ihm zu gehen.«
»Wenn er dich noch einmal so hart anpackt, musst du es mir sagen.« Alexander ließ sie los.
»Dima ist ein netter Mann. Er ist wahrscheinlich nur eine andere Sorte von Mädchen gewöhnt.« Tatiana hustete. »Ich komme schon damit klar. Es wird sicher nicht noch einmal passieren.« »Ach ja?«, fragte Alexander. »So wie du damit klargekommen bist, mit deiner Familie über Pascha zu reden?« Tatiana schwieg. Dann sagte sie: »Du wusstest, dass es schwierig für mich ist, dieses Thema anzuschneiden. Du kannst ja noch nicht einmal meine vierundzwanzigjährige Schwester dazu bewegen, es zu tun. Warum versuchst du es nicht einmal selbst? Komm zum Abendessen vorbei, trink mit Papa ein wenig Wodka und sprich ihn auf Pascha an. Dann werde ich ja sehen, wie man so etwas angeht. Ich kann es jedenfalls nicht.« »Du bist nicht imstande, mit deiner eigenen Familie über deinen Bruder zu reden, aber du kannst dich gegen Dimitri zur Wehr setzen?«
»Genau«, erwiderte Tatiana. Unglücklich fragte sie sich, warum sie eigentlich stritten.
Sie ergatterten einen Platz in der Straßenbahn. Tatiana hielt sich an der Bank vor ihr fest. Alexander hatte die Hände im Schoß gefaltet. Er schwieg und sah sie nicht an. Irgendetwas ärgerte ihn. War es die Sache mit Dimitri? Trotz des Disputs saßen sie nahe beieinander, Arme und Beine aneinander gedrückt. Tatiana bewegte sich nicht. Sein Bein fühlte sich ganz hart an. Um das Gespräch wieder in Gang zu bringen, fragte Tatiana: »Wo ist jetzt eigentlich die Front, Alexander?« »Sie bewegt sich in nördlicher Richtung.« »Das ist aber noch weit weg, oder? Weit weg von ...«
Er blickte sie nicht an. »Wir besitzen zwar große militärische Streitkräfte, aber immerhin führen wir nicht alle Tage einen Krieg.« Er schnaubte. »Unsere albernen Manöver, unsere Übungen, unsere schwerfälligen Flugzeuge, unsere jämmerlichen Panzer ... Wir wussten nicht, mit wem wir uns da eingelassen haben.«
Tatiana lehnte sich schüchtern bei ihm an. »Alexander, warum zögert Dimitri, in den Kampf zu ziehen? Ich meine, immerhin geht es doch darum, die Deutschen aus unserem Land zu vertreiben.«
»Die Deutschen sind ihm egal. Ihm geht es nur um eins ...« Er brach ab. Tatiana wartete.
»Du musst Folgendes über Dimitri wissen, Tania: Selbstschutz ist für ihn ein unveräußerliches Recht.«
Sie blickte ihn fragend an. »Was ist... unveräußerlich?«
»Ein persönliches Recht, das einem keiner nehmen kann.«
Tatiana dachte nach. »Wie kommt er darauf? Haben wir ein solches Recht überhaupt?« »Wen meinst du mit wir?«
Sie senkte die Stimme. »Ich meine die Menschen, die in der Sowjetunion leben.«
»Du hast Recht, Tania, hier gibt es ein solches Recht nicht.« Alexander schwieg. »Und dennoch besteht Dimitri darauf.« »Unveräußerlich ... Ich habe dieses Wort noch nie zuvor gehört«, sagte Tatiana nachdenklich.
»Nein, wie solltest du auch?«, erwiderte er. »Wie hast du denn den restlichen Sonntag verbracht? Und wie geht es deiner Mutter? Sie sieht immer so aus, als würde sie jeden Moment zusammenbrechen.«
»Nun, Mama hat in der letzten Zeit zu viele Sorgen.« Tatiana drehte sich zum Fenster. Sie wollte nicht schon wieder über Pascha sprechen. »Weißt du, was ich gestern getan habe? Ich habe ein paar englische Wörter gelernt. Willst du sie hören?« »Sehr gern, sobald wir ausgestiegen sind. Irgendwelche besonderen Wörter?«
Sie wusste nicht genau, was er meinte, und errötete.
Sie verließen die Bahn. Am Warschauer Bahnhof sah Tatiana eine Menschenmenge stehen: Frauen mit Kindern und alte Leute mit Gepäck. Sie schienen
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