Die Liebenden von Leningrad
sich nur so angehört, als ob du beschreibst, wie es ist, geliebt zu werden.« Sie schwieg und die anderen sagten auch nichts. »Ist Liebe nicht eher das, was man gibt , und nicht das, was man bekommt ? Gibt es da nicht einen Unterschied? Oder liege ich völlig falsch?«
»Völlig«, erwiderte Dascha und lächelte Tatiana an. »Was weißt du schon davon?«
»Nichts«, sagte Tatiana mit gesenktem Blick.
»Taneschka, was glaubst du denn, was Liebe ist?«, erkundigte sich Dimitri.
Tatiana hatte das Gefühl, in der Falle zu sitzen. »Tania? Sag es uns! Was bedeutet Liebe für dich?«, wiederholte Dimitri.
»Ja, komm schon, Tania«, drängte Dascha. »Sag Dimitri, was Liebe für dich bedeutet.« Und mit neckender, liebevoller Stimme fügte sie hinzu: »Für Tania bedeutet Liebe, einen ganzen Sommer lang allein zu sein, damit sie in Ruhe lesen kann. Liebe ist für sie - lange zu schlafen. Das ist ihre größte Liebe. Für Tania heißt Liebe ... Karamelleiscreme. Das ist die Nummer eins. Tania, sag die Wahrheit: Wenn du den ganzen Sommer über lange schlafen, Karamelleis essen und lesen könntest, das wäre doch für dich die höchste Wonne!« Dascha lachte. »Liebe für sie ist ... oh, ich weiß: Deda! Er ist die Nummer eins. Außerdem dieser prächtige Palast. Und uns alberne Witze zu erzählen und uns zum Lachen zu bringen. Liebe ist für sie Pascha - ich glaube, er ist eindeutig die Nummer eins. Und eine weitere Liebe ist... nackt Rad zu schlagen!«, rief Dascha fröhlich aus.
»Nackt Rad schlagen?«, fragte Alexander, der Tatiana unverwandt anblickte.
Dimitri hakte sofort ein. »Können wir das mal sehen?« »Oh Tania, sie sollten das wirklich sehen! Am Ilmensee hat sie sich fünf Mal hintereinander direkt ins Wasser katapultiert.« Daschas Gesicht glühte vor Entzücken. »Warte! Genau, die Kinder haben dich die Radschtag-Königin vom Ilmensee genannt!« »Ja«, erwiderte Tatiana ruhig. »Und nicht die nackte Radschlag-Königin vom Ilmensee.« Alexander unterdrückte nur mit Mühe ein Lachen. Dascha und Dimitri wälzten sich vor Vergnügen auf der Decke. Hochrot im Gesicht warf Tatiana ein Stück Brot nach ihrer Schwester und sagte empört: »Damals war ich sieben, Dascha!« »Jetzt bist du auch noch sieben.« »Halt den Mund!«
Dascha drückte Tatiana auf die Decke und warf sich auf sie. »Tania, Tania«, quietschte sie und kitzelte ihre Schwester. »Du bist so ulkig!« Ganz dicht über Tatianas Gesicht gebeugt staunte sie: »Sieh dir bloß deine Sommersprossen an!« Dann gab sie ihr einen Kuss. »Sie sind förmlich aufgeblüht. Anscheinend bist du häufig an der frischen Luft. Du gehst doch nicht etwa von der Arbeit zu Fuß nach Hause?«
»Nein. Und jetzt geh von mir herunter. Du bist viel zu schwer«, keuchte Tatiana und stieß ihre Schwester weg. Dimitri warf ein: »Tania, du hast die Frage noch nicht beantwortet.«
»Ja«, sagte Alexander. »Tatiana soll die Frage beantworten.« Tatiana brauchte ein paar Sekunden, bevor sie wieder zu Atem kam. »Liebe ist ...«, begann sie langsam und blickte nur Dascha an. »Wenn er hungrig ist und du ihm zu essen gibst. Liebe ist zu wissen, wann er Hunger hat.«
Dascha entgegnete: »Aber Tania, du kannst ja noch nicht einmal kochen! Er würde bei dir wahrscheinlich verhungern.« Dimitri kicherte. »Und was ist, wenn er geil ist? Was tust du dann?« Er lachte so sehr, dass er einen Schluckauf bekam. »Ist Liebe auch, wenn man weiß, wann er geil ist?« »Zum Teufel noch mal, hör auf damit, Dimitri«, befahl Alexander.
»Dima, du bist so ordinär!«, empörte sich Dascha, »du hast einfach keine Klasse!« Lächelnd drehte sie sich zu Alexander um und sagte eifrig: »So, und jetzt bist du an der Reihe.« Tatiana, die reglos im Schneidersitz verharrte, blickte an Alexander vorbei zum Großen Palast und dachte an das vergoldete Thronzimmer und an all ihre Kinderträume, die hier in Peterhof ihren Ursprung hatten.
»Liebe ist, wiedergeliebt zu werden«, verkündete Alexander. Tatiana blickte unverwandt zum Sommerpalast Peters des Großen. Ihre Unterlippe bebte.
Dascha schmiegte sich lächelnd an ihn. »Das ist hübsch, Alexander.«
Erst als sie aufbrachen, bemerkte Tatiana, dass niemand gefragt hatte, was für Dimitri Liebe bedeutete.
Als sie sich an diesem Abend zur Wand drehte, hatte Tatiana heftige Gewissensbisse wegen ihrer Verbindung zu Alexander. Sie hatte etwas Unrechtes getan: Sie hatte Dascha hintergangen. Das bedeutete, dass ihr Leben von nun an aus
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