Die Liebenden von Sotschi
sein Gesicht lag bloß, eingerahmt von Kompressen, Mulltupfern und blinkenden Instrumenten. Hinter seinem Kopf, auf einer Tafel aus Preßpappe, hatte man mit Heftzwecken die Zeichnung des neuen Gesichtes angeheftet, übersät mit Meßdaten und nur dem Operateur verständlichen Notizen.
»Hallo, hallo, da ist sie ja!« sagte Jeff Tucker, als Irene in den OP trat. »Anthony, Ihre Frau ist hier! Wenn Sie sprechen können, ohne den Kiefer viel zu bewegen, dürfen Sie jetzt sagen: ›Hallo, Darling!‹«
»Irininka.« Ein Hauch war es nur, aber Irene verstand. Ihr Herz hämmerte bis zum Hals.
»Ich setze mich hinten an die Wand – Tony«, sagte sie gepreßt. Es fiel ihr unendlich schwer, diesen Namen auszusprechen, aber als sie es getan hatte, war es ihr, als sei viel Last von ihr abgefallen. »Ich bleibe bei dir.«
»Das ist schön …« sagte er mühsam, um den Unterkiefer nicht zu bewegen. »Ich liebe dich.«
Sie biß die Zähne zusammen und drückte den Hinterkopf gegen die kalte Kachelwand.
Prof. Tucker klopfte Boris fast zärtlich die Wange.
»Nun sind wir alle froh und glücklich beieinander und können weitermachen. Keine Salbe ist so wirksam wie die Liebe! Anthony, jetzt gehen wir die Augenbrauen an. Sie werden sich gefragt haben, vor einer halben Stunde: Was macht das Ferkel von Chirurg an meinen Schamhaaren, da braucht man doch keine Veränderung? Mein Lieber, wir haben Ihnen da einige Hautpartien mit schönen Büschellöckchen abgetragen, die verpflanzen wir jetzt als markante buschige Brauen. Ich mache das zum erstenmal, das muß ich gestehen. War meine Idee!« Er warf einen Blick auf Irene, die auf einem Hocker an der Wand saß. »Mrs. Mabel, haben Sie dann bitte keine Hemmungen, wenn die Augenbrauen Ihres Mannes sie beim Küssen kitzeln … Es sind dann wirklich die Brauen!« Jeff Tucker lachte und wechselte dabei die Handschuhe aus hauchdünnem Gummi. »Eigentlich amüsant: Schamhaare über den Augen! Das darf man nicht veröffentlichen. Wenn das in Hollywood bekannt wird, kann es dort zur Mode werden! – Mrs. Mabel, nun lachen Sie doch mal!«
Irene verzog ihren Mund, aber diese Art von Heiterkeit lag ihr nicht. Prof. Tucker nickte Dr. Haddix und einem jungen Assistenten zu. Die Instrumentenschwester postierte sich hinter ihrem Tisch. Die Anästhesistin, eine ältere Ärztin mit olivfarbener Haut und grünen Augen, umspritzte noch einmal die Brauenpartien mit einem Narkosemittel. Es war vollkommen still im OP, das fiel Irene sofort auf, als die Operation fortgesetzt wurde. Tucker arbeitete lautlos. Sie kannte andere Operateure, die herumbrüllten, die Schwestern beschimpften, mit Instrumenten um sich warfen und sich ausgesprochen flegelhaft benahmen. Sonderbarerweise nur während der Operation. Privat waren es oft sehr charmante oder sogar sanftmütige, scheue Männer.
»Merken Sie was, Anthony?« fragte Prof. Tucker manchmal.
»Nein«, antwortete Bubrow dann durch geschlossene Lippen. »Nichts.«
Darauf war wieder Stille, nur die Instrumente klapperten.
Irene konnte nicht sehen, wie Tucker arbeitete, sie sah nur auf seinen Rücken, auf den nach vorn gekrümmten Nacken, auf die gespreizten Beine. Aber sie sah, daß er sehr schnell war bei seinen Hantierungen, von einer artistischen Sicherheit. Vom Instrumententisch zu ihm flogen förmlich die benötigten Werkzeuge, Tupfer, Nadeln, Klemmen, Kompressen. Und alles ging lautlos, nur ab und zu ein Fingerschnippen, wenn die Instrumentenschwester nicht schnell genug war.
Das beruhigte Irene. Cohagen hatte nicht übertrieben: Prof. Tucker war in seinem Bereich wohl unübertrefflich. Nach einer Stunde erhob sie sich leise, nickte Tucker zu und schlich aus dem OP. Im Appartement erwartete sie bereits die kleine Vanessa mit heißem Tee, Zitrone und weißem Rum. Eine Silberschale mit Teegebäck stand auf dem Tisch.
»Jetzt müssen Sie aber etwas essen, Madam«, zwitscherte sie. »Sonst ist der Herr Professor böse. Oh, Sie kennen ihn nicht, wenn er böse ist. Das ist fürchterlich. Dann zittern die Fensterscheiben! Ob Personal oder Patient – er macht da keinen Unterschied. Einmal hat er einen berühmten Filmschauspieler zusammengebrüllt, zwei Tage lang hat der Arme geweint, bis der Professor ihn wieder anredete. Und nur, weil er sich heimlich ein Mädchen aufs Zimmer geholt hatte. Die Nachtwache hat es verraten.«
Irene aß ein paar Kekse, trank eine Tasse Tee ohne Rum und blickte wieder auf die Uhr. Fast vier Stunden waren herum. Nun kamen die
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