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Die Liebenden von Sotschi

Die Liebenden von Sotschi

Titel: Die Liebenden von Sotschi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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Freilich gibt es auch Anomalitäten des Körperbaus, die ernste seelische Schäden verursachen können.
    Sie blickte auf die Uhr. Jetzt ist er in Narkose, dachte sie. Prof. Tucker kontrolliert Atmung, Puls und Herzfrequenz. Sogar die Hirnströme wollten sie während der Operation messen. Bloß kein Risiko, bloß kein Sauerstoffmangel, der zu Hirnschäden, zu Sehstörungen, zu Lähmungen führen kann! Jeff Tucker wollte ein Meisterwerk vollbringen.
    Wo wird er zuerst ansetzen? Bei der Nase? Bei den Ohren? Oder mit dem größten Schnitt, am Kinn? Besonders kritisch sind Lippen und Wangen. Hier könnten beschädigte Nerven aus einem schönen Mund ein Schiefmaul machen …
    Sie lief, die Fauste zusammenschlagend, im Zimmer hin und her. Sei ruhig, redete sie sich zu. Beherrsch dich, Irene! Du bist doch Ärztin! Du hast das doch alles oft genug erlebt! Was hast du zu den wartenden Angehörigen gesagt? »Keine Sorge! Wir tun unser Bestes! Es ist ja eine ganz normale Operation.« – Aber was ist hier das Beste? Was ist hier normal? Alles klingt anders, wenn man es nicht zu Fremden, sondern zu sich selber sagt. Da hört sich alles fad an, abgedroschen. Da werden aus Trostworten sogar Alarmzeichen. Irene, du als Ärztin weißt ja am besten, was alles bei einer Operation passieren kann. Die immer möglichen, aber nie einzukalkulierenden Überraschungen, die sogenannten ›Operations-Zwischenfälle‹. Der Mensch ist keine Maschine, die man reparieren kann. Er ist und bleibt ein biologisches Wunder, das immer neue Wunder schafft. Wer weiß das besser als du, Irene …
    Das Telefon klingelte. Der Ton war ungewöhnlich laut und schrill. Sie stürzte zum Apparat und riß den Hörer hoch.
    »Ich bin's, Ronny!« hörte sie Cohagens unbekümmerte Stimme. »Soll ich zu Ihnen kommen?«
    »Nein. Bitte nicht!« sagte sie schwer atmend.
    »Ich lade Sie zu einer Bootsfahrt ein. Und danach zu einem fulminanten Essen!«
    »Wie könnte ich auch nur einen Bissen herunterbekommen, Ronny?«
    »Sie können aber auch nicht sieben Stunden herumsitzen und warten. Nachher können Sie Ihre Nerven immer noch auswringen.«
    »Wenn's nur erst nachher wäre … Jetzt sind sie schon dran. Jetzt ist es schon nicht mehr Boris' Gesicht.«
    »Das ist eben das Blöde! Sie haben zuviel Zeit zum Denken! Ich weiß, wie Ihnen zumute ist, Irene. Aber eben deshalb möchte ich Sie ablenken. Sie sollen ja keine wilde Party feiern, sondern nur mit mir über den Hudson fahren. Ich möchte Ihnen gerne vier Häuser zeigen, die wir für Sie ausgesucht haben. Entzückende kleine Landhäuser, zwei im Kolonialstil. Wenn Mr. Jefferson aus dem OP zurückkommt, können Sie ihm schon sagen: Lieber Anthony, ich weiß, wo wir alt werden können … Na, wie ist's Irene?«
    »Ich möchte hier warten, Ronny.«
    »Okay! Dann bin ich am Abend da. Nur fünf Minuten. Ich will Tony bloß die Hand drücken.«
    Irene legte auf. Tony … Er sagt nicht mehr Borja, er sagte jetzt Tony … Für ihn ist Boris bereits Vergangenheit.
    Sie blickte gegen die Wand mit der Blumentapete und gab dem Psychiater gar nicht recht, der behauptete, Blumen und Gräser hätten eine nervenberuhigende Wirkung. Sie hätte die Blumen von der Wand reißen mögen.
    Gegen zehn Uhr kam Dr. Haddix ins Zimmer. Vanessa Wildie mußte ihn alarmiert haben, als sie gesehen hatte, daß Irene ihr Frühstück nicht angerührt hatte. Sogar den Kaffee hatte sie stehengelassen.
    »Es läuft alles hervorragend!« sagte er munter. »Prof. Tucker läßt Ihnen sagen, daß sein Angebot gilt, nach wie vor, Sie können in den OP kommen und zusehen.«
    Sie sah Haddix mit großen Augen an und nickte. »Wenn – wenn ich in einer Ecke sitzen könnte. Nicht am Tisch. Irgendwo in einer Ecke.«
    »Wo Sie wollen, Mrs. Jefferson. Sie können sich sogar mit Ihrem Mann unterhalten. Noch hat er nur eine Lokalnarkose. Wir haben mit den Ohren begonnen. Später müssen wir dann vollanästhesieren. Kommen Sie mit?«
    »Ja.«
    Das Zeremoniell der Waschungen und der Sterilisation überstand Irene wie in Trance. Man zog ihr einen bodenlangen, hellgrünen OP-Kittel an, eine netzartige Haube verdeckte ihre Haare, auf den Atemschutz verzichtete man, da sie nicht am OP-Tisch stand. Aber bevor sie in den OP trat, wurde sie in einem Vorraum noch einmal von oben bis unten mit einer Art Spritzpistole eingesprüht. Das Schutzmittel roch leicht nach Anis.
    Durch die große Scheibe, die sie noch vom OP-Tisch trennte, sah sie Boris liegen. Er war völlig abgedeckt, nur

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