Die Liebesbloedigkeit
können, worüber ich mich amüsiere. Sie ist Chefsekretärin und arbeitet jeden Tag zwischen acht und neun Stunden lang und leidet nach eigener Aussage nicht unter ihrer Arbeit. Es gefällt ihr, daß sie in ihrer Position so gut wie alles über die Mitarbeiter des Betriebs (einer kleinen Fabrik für Sanitärgeräte) weiß und daß sie zuweilen selber Entscheidungen treffen darf, die für alle Mitarbeiter bindend sind. Wir kennen uns seit dreiundzwanzig Jahren, allerdings mit Unterbrechungen. Als wir uns zuerst begegneten, waren wir noch sehr jung, und zu Beginn gab es eine Zeit, in der wir beinahe geheiratet hätten. Aber dann stellte sich heraus, daß Sandra Kinder haben wollte, und an diesem Konflikt scheiterte nicht unsere Zuneigung, wohl aber das weitere Zusammenbleiben. Ich hatte und habe keine Neigung, Nachkommen zu zeugen. Sandra verließ mich nach zwei Jahren bitterer Auseinandersetzungen und heiratete bald darauf einen Elektrotechniker. Rasch bekam sie einen Sohn und blieb sechs Jahre verheiratet. Noch während ihrer Ehe trafen wir uns wieder und wurden erneut ein (heimliches) Paar. Sandras längst erwachsener Sohn ist heute mit einer Krankenschwester verheiratet und besucht seine Mutter zu selten, findet Sandra. Zu ihrem früheren Ehemann hat Sandra kaum noch Kontakt und wünscht auch keinen.
Ich betrete ein Kaufhaus und fahre mit der Rolltreppe nach unten in die Lebensmittelabteilung. (Bis heute durchweht mich, wenn ich die Hodenuntersuchung erinnere, die Scham von damals. Die Geschichte ist belanglos geworden, aber die Scham ist immer frisch. Wo nimmt die Scham ihre Lebendigkeit her? Es ist, als würden sich die Gefühle von ihren Erlebnissen lösen und selbständig weiterleben.) Ich kaufe ein Viertel Paprikawurst und ein kleines Brot. Bei einer jungen Verkäuferin verlange ich ein Kilo der schönen rot-gelben Pfirsiche, die genau unter einem hellen Punktstrahler liegen. Die Verkäuferin fragt zurück: Wollen Sie gelbfleischige oder weißfleischige Pfirsiche?
Ich verstehe die Frage nicht und stutze. Die Verkäuferin wiederholt ihre Frage. Um das Problem aus der Welt zu schaffen, deute ich mit dem Zeigefinger auf die von mir gemeinten Pfirsiche.
Ahhh, macht die Verkäuferin, also die weißfleischigen.
Ahhh, sage ich, von diesen Neuerungen weiß ich nichts.
Aber weißfleischige Pfirsiche gibt es doch seit meiner Jugend, sagt die Verkäuferin lachend.
Ja, sage ich, seit Ihrer weißfleischigen Jugend! In meiner schon leicht angegilbten Jugend hat man diesen Unterschied noch nicht gekannt.
Es gefällt der Verkäuferin, daß ich vor ihr und den anderen Kunden ihre Jugend betont habe. Lachend packt sie die Pfirsiche ein. An meiner Antwort erkenne ich, daß ich guter Laune bin und mich auf den Abend mit Sandra freue. Trotzdem verstehe ich nicht, warum ich vor fremden Leuten auf mein Alter hinweise. Mit meinen zweiundfünfzig Jahren bin ich gewiß nicht mehr jung, aber auch noch nicht so alt, daß ich öffentlich auf meine Vergänglichkeit anspielen sollte. Ich weiß nicht, warum ich mich zu solchen Bekenntnissen hinreißen lasse. Wieder (wie in letzter Zeit öfter) habe ich das Gefühl, daß ich mich ohne Not unwürdig darstelle. Ich nehme die Pfirsiche an mich und verlasse das Kaufhaus.
Eine halbe Stunde später fragt mich Sandra im Stil einer langjährigen Ehefrau: Na, wie war dein Tag? Ich antworte wahrheitsgemäß, daß ich heute mehr gearbeitet habe, als ich von mir habe erwarten können. Dann setz’ dich hin und ruh’ dich aus, sagt Sandra. Ich folge ihr in die Küche. Sandra steht im Unterrock am Herd. Das heißt, obenrum trägt sie eine dünne Wollweste. Sandra weiß, daß ich sie gern im Unterrock herumwirtschaften sehe. Knapp unterhalb ihres linken Ohrs wächst ihr ein einzelnes, langes dunkles Haar, das Sandra nicht entfernt. Später, im Bett, wenn ich das Haar auf der weißen Bettwäsche werde liegen sehen, wird es mich beeinträchtigen. Auch bei Sandra zeigt sich das Älterwerden. Zum Beispiel bewahrt sie jetzt Gegenstände, die sie früher ohne Überlegung weggeworfen hat (eine leere Keksdose, gebrauchtes Geschenkpapier, nichtssagende Urlaubspostkarten) sorgfältig auf. Sandra kocht einen Risotto mit wunderbar frischen Meeresfrüchten. Sie gibt mir eine Flasche Weißwein zum Öffnen und stellt zwei Gläser auf den Tisch. Später erzählt mir Sandra die neuesten Turbulenzen aus dem Leben eines schwulen Kollegen. Dieser wohnt neuerdings mit einem erheblich jüngeren Schwulen zusammen und
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