Die Liebesbloedigkeit
wirkt wie eine wunderbare Doppelverankerung in der Welt. Man wird mit Liebe gemästet, und das ist genau das, was ich brauche. Die Liebe zu zwei Frauen ist weder obszön noch gemein noch besonders triebhaft oder lüstern. Sie ist im Gegenteil völlig normal (und normalisierend), sie ist eine bedeutsame Vertiefung aller Lebensbelange. Ich vergleiche sie oft mit der Elternliebe. Niemand hat je gefordert, daß wir nur die Mutter oder nur den Vater lieben dürfen. Im Gegenteil, alle Welt verlangt von uns, daß wir Mutter und Vater lieben, und zwar gleichzeitig und stets heftig und ein Leben lang oder sogar länger. Wehe, wenn wir in der Liebe zum einen oder anderen nachlassen! Immer wieder frage ich mich, warum uns in dem einen Fall eine Doppelliebe möglich sein soll, während sie in dem anderen Fall untersagt ist. Mir jedenfalls ist das Bewußtsein dafür, daß mein Sexualleben polygam genannt wird und nach den herrschenden Auffassungen niederträchtig ist, im Laufe der Jahre abhanden gekommen. Wenn ich längere Zeit mit nur einer Frau Umgang habe (weil Sandra verreist ist oder weil Judith alleine sein möchte), erleide ich prompt die Zustände der Verlassenheit und des Ausgeliefertseins, das heißt, es ergreift mich das Dauerleiden aller Monogamen.
Daß ich mit der Dreierkonstellation dennoch hadere, hat einen äußerlichen und deprimierenden Grund. Ich muß mir darüber klarwerden, daß ich früher oder später nicht mehr die Wendigkeit, die Lust und vermutlich auch nicht mehr die Kraft zu einer Polygamie in drei Wohnungen haben werde. Ich muß seit einiger Zeit an den Niederschlägen und Schwachheiten des Alterns teilnehmen. Das bedeutet, daß ich mich für eine Frau werde entscheiden müssen, mit der ich dann auch zusammenziehen will. Fühle ich mich mehr zu Sandra oder mehr zu Judith hingezogen? Die Antwort ist: Ich bin verstimmt, weil ich eine Lebensentscheidung treffen soll. Prompt fange ich an, Sandras und Judiths Vor- und Nachteile gegeneinander aufzurechnen. Ich weiß, das Frauenvergleichen ist widerlich und sogar geschmacklos. Aber das Vergleichen ist unterhaltsam! Ich gehe in der Wohnung umher und halte (zum Beispiel) Judith stumm vor, daß sie so gut wie nie kocht, weil sie zuviel aushäusig arbeitet und durch das Kochen die Wohnung mehr und mehr den Geruch einer Kantine annimmt (argumentiert Judith). Da auch ich nur selten koche, treffen wir uns dann und wann mittags zum Essen in einem Kaufhaus-Kasino oder in einem Bistro (wo Sandra niemals hingeht). Zwei Atemzüge später werfe ich Judith außerdem vor, daß sie auf der Straße nicht geküßt werden will. Sandra hingegen möchte immer und überall und ganz besonders auf der Straße geküßt werden. Sie will auch vor anderen Menschen eine geküßte Frau sein, weil sie im öffentlichen Kuß das Zeichen einer Wahl und einer Bevorzugung sieht. Im Wohnzimmer trete ich aus Versehen auf den Staubsauger, der seit Tagen seitlich neben dem Sofa liegt. Der Plastikgriff bricht sofort ab. Ich ärgere mich, weil ich einen neuen Staubsauger kaufen muß, gleichzeitig bin ich froh, daß ich mit dem Frauenvergleichen jetzt aufhören kann. Kurz vorher belobige ich Sandra noch einmal, daß sie sich so schnell in eine hilfsbereite Krankenschwester verwandelt hat. Mein (zur Zeit) zensierendes Bewußtsein erteilt Sandra dafür die Note Eins. Mehr aus Versehen schaue ich auf meinen Schreibtisch. Seit Tagen schon schiebe ich eine Menge Arbeit vor mir her. Von Beruf bin ich freischaffender Apokalyptiker. Ich lebe von Vorträgen, Kolloquien, Tagungen und Essays in Fachzeitschriften. In Hotels veranstalte ich sogenannte Seminare und beeindrucke die Leute mit meinen erstaunlichen Vorhersagen. Ich muß sofort präzisieren: Ich bin kein Universalapokalyptiker, sondern ein Zivilisationsapokalyptiker, das heißt, ich bin kein Fundamentalist, sondern ein Fortschrittsrevisionist, ein Besinnungskonservativer. Ich glaube, man hört mir gern zu, weil ich die Welt nicht völlig aufgebe. Ich gehöre nicht zu den Finsterlingen, die beinahe wöchentlich eine Klimakatastrophe vorhersagen und aus Europa einen tropischen Erdteil machen, über den bald Taifune hinwegjagen werden. Nie wird man von mir hören, daß ganze Länder (Holland und Dänemark werden von diesen Unglückspropheten oft genannt) von der Landkarte verschwinden und daß neuartige Krankheitserreger weite Bevölkerungsteile hinwegraffen werden. Diese immer noch gängige und durch Wiederholung fast schon gemütlich gewordene
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