Die Liebesbloedigkeit
Konfliktlockerungsbehandlung an. Das ist nicht weiter schlimm, Dr. Ostwald würde am liebsten alle Menschen behandeln. Ich erhöhe mein Tempo, obwohl ich auch nicht möchte, daß Dr. Ostwald meinen Fluchtimpuls bemerkt. Er unterhält in der Schillerstraße eine gutgehende Problempraxis. Zu ihm kommen »panifizierte Personen« (sein Ausdruck), die mit ihren »Lebenswiderfahrnissen« (sein Wort) nicht mehr zurechtkommen. Die Kräfte des Menschen reichen nicht aus, sein Leben zu ordnen, sagte er mir vor etwa drei Wochen. Und: Im Unglück hat der Mensch keine Ideen. Ich schwieg bedeutungsvoll, er redete weiter. Es kommt darauf an, so zu leben, daß ein erhöhter Ordnungsbedarf gar nicht erst entsteht. Ich wollte an dieser Stelle lachen, aber ich beherrschte mich. Es ist das Unglück der Menschen, daß sie ihre Probleme für lösbar halten. Vermutlich sollten mich diese Sätze provozieren. Ich glaube, Dr. Ostwald hat bemerkt, daß ich ihm aus dem Weg gehen möchte. Im Prinzip mache ich mich über ihn gerne ein bißchen lustig, obwohl ich seine Arbeit nicht für völlig überflüssig halte. Mit ein paar Blicken in eine große Schaufensterscheibe vergewissere ich mich, daß Dr. Ostwald verschwunden ist. In den ersten Jahren hatte ich öfter Angst, daß mich Sandra mit Judith oder Judith mit Sandra überraschen würde. Erst später ist mir aufgefallen, daß beide Frauen in voneinander abgetrennten Welten leben, deren Berührung ich nicht fürchten muß. Sandra verbringt ihre Tage im Büro, Judith ist täglich außer sonntags mit Bussen und S-Bahnen unterwegs. Wir sind nicht mehr jung, das heißt, wir haben schon vor langer Zeit aufgehört, das Glück in Lokalen, Kinos oder auf Tanzfesten zu suchen. Vielmehr sind wir vom Ablauf des sogenannten normalen Lebens am Abend ermüdet und erholen uns in unseren Wohnungen. Es kommt selten vor, daß Judith oder Sandra bei mir übernachten. Es gibt dafür keinen besonderen, sondern nur den allgemeinen Grund, daß meine Wohnung – ich will es mal so ausdrücken – den empfindsameren Ansprüchen von Frauen nicht standhält. Weder Sandra noch Judith neigen zu Mißtrauen oder Argwohn. Es ist schon sehr lange her, daß Sandra spätabends mit einem Anruf kontrollierte, ob ich wirklich zu Hause war oder ob ich mich am Telefon so merkwürdig verhalte, daß sie auf die Anwesenheit einer anderen Frau hätte schließen können oder müssen.
2
In meiner Wohnung ziehe ich mich aus und dusche. Die Hose lege ich auf den Kühlschrank, das Hemd werfe ich über den Fernsehapparat. Es gehört zu meiner Freiheit, daß jetzt keine Frau erscheint und Hose und Hemd ordentlich aufräumt. Nach dem Duschen sehe ich, daß die Hose vom Kühlschrank heruntergerutscht ist und ausdrucksvoll wie eine kleine dunkle Stoffhalde gegen die Tür des Kühlschranks lehnt. Auch jetzt erscheint keine Frau und hebt die Hose auf oder fragt, warum ich es nicht selber tue. Ich könnte die Frage nicht beantworten. Oder vielleicht doch. Die Hose beginnt in diesen Augenblicken, mir meine eigenartig zusammengewürfelte/zusammengehauene/zusammengeklumpte Lebensgeschichte zu erzählen. Eine Weile höre ich zu, dann mag ich nicht mehr. Mein Leben fasziniert mich, aber nachdem es mich eine Weile fasziniert hat, langweilt es mich plötzlich. So ist es immer wieder! Manchmal komme ich mit dem Umschlag von der Faszination in die Langeweile zurecht, manchmal nicht. Mit Judith könnte ich über die Erzählung der am Boden liegenden Hose sprechen, mit Sandra eher nicht. Sandra würde erschrecken und hätte über den Schreck hinaus keinen Einfall. Judith ist der Kunst, dem Denken und der Reflexion hingegeben. Sie setzt sich immer mal wieder irgendwohin und sinnt einer ästhetischen Erfahrung nach, die sie vor drei Tagen oder vor drei Jahren gemacht hat. Zu meiner unseligen Widersprüchlichkeit gehört, daß ich mir jetzt vorstelle, wie schön es wäre, wenn ein wohlgesonnener Mensch (Sandra! Judith!) mich in meiner Wohnung empfangen hätte. Ich erinnere mich an die Zeit, als ich vor elf Jahren in diese Wohnung einzog. Sandra besuchte mich schon am ersten Abend und forderte mich ohne Zögern zu einem Sofortbeischlaf auf. Später erzählte sie mir, daß sie damals weder Begierde noch Lust empfand, sie wollte nur ein Zeichen der Inbesitznahme der Wohnung setzen. Danach war die Wohnung, glaubte sie, ihr Territorium. Diese Annahme rührt mich und nimmt mich noch heute für Sandra ein. Ich kann die dauerhafte Liebe zu zwei Frauen nur empfehlen. Sie
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