Die Liebesbloedigkeit
beziehungsweise von mir selber überfordert. Ich nehme an, der Mann will mich keine Sekunde länger als nötig in seiner Nähe haben. An der Tür bleibe ich stehen und schaue in den Regen hinaus. Eine Mutter mit Kind und Kinderwagen bleibt stehen und holt aus dem Gepäckfach des Kinderwagens ein Regencape heraus. Sie faltet das Cape auseinander und spannt es über Kind und Kinderwagen. Als ich das Kind unter dem Plastiküberzug verschwinden sehe, dichte ich ihm ein übles Erlebnis an: Es leidet unter der Enge und der schlechten Luft unter dem Cape, es hat keinen Sichtkontakt mehr zur Mutter, es fühlt sich verlassen, vielleicht besteht sogar Erstickungsgefahr! In Wahrheit winkt das Kind vor meinen Augen fröhlich unter dem Cape hervor und improvisiert hinter seiner Verhüllung ein kleines Kasperletheater. Ich bin perplex, verdutzt, erleichtert: Das Kind enthüllt meine cholerischen Phantasien. Ich schaue dem Theater des Kindes ein paar Sekunden lang zu. In meiner Verblüffung gelingt es mir zum ersten Mal, die Todesangst vom bloßen Todesangsttheater zu trennen. Es ist, als trete ich aus einer sommerlichen Verwirrung hervor. Mein moralischer Hitzschlag läßt endlich nach. Schon wenige Sekunden später verstehe ich nicht mehr, wie ich mich wochenlang damit abquälen konnte, ob ich mich für Sandra oder Judith »entscheiden« soll. Ich werde weder Sandra noch Judith verlassen, ich bekenne mich zum Durcheinander des Liebeslebens und zu dessen Endgültigkeit, es bleibt alles, wie es ist und war. Es ist ein gutes Zeichen, daß Sandra nicht wieder auf ihr Heiratsangebot zu sprechen kommt. Sie wird auf ihre verläßliche Weise gefühlt haben, daß ihr Plan, obwohl er mir im Alter tatsächlich helfen würde, nicht zu meinem Glück beiträgt. In diesem Riß verbirgt sich meine nicht beherrschbare Widerspenstigkeit, und ich rechne es Sandra hoch an, daß sie diese nicht länger zu bändigen versucht. Ihre Idee wandert, wie so viele andere, in das Archiv der guten Absichten und verfällt dort dem allgemeinen Lebensschwund. Um ein großes Liebesunrecht (entweder an Sandra oder Judith) zu vermeiden, nehme ich laufende kleine Verstöße gegen die Ethik (die Untreue) stillschweigend in Kauf. Es beglückt mich, daß ich zu dieser Überlegung fähig bin. Sie läßt mich zitternd, aber zufrieden als Überlebenden der Liebe zurück. Es ergreift mich eine gehobene Trauer, die durch ihre Leichtigkeit in ihr Gegenteil übergeht. So verwandelt sich die Todesangst in eine sich unbemerkt nähernde Sterblichkeit. Dabei fühle ich mich von der dichten Nähe meiner Gefühle bereits belästigt. Ich bin derartige innere Tumulte nicht gewöhnt. Am liebsten möchte ich irgendwo sein, wo es extrem bedeutungslos zugeht. Der Regen läßt schon wieder nach und verwandelt sich in ein leichtes Tröpfeln. Ich verlasse den Friedensplatz und gehe in Richtung Flußufer. Meinen neben der Bank zurückbleibenden Koffer habe ich schon vergessen. Eine weitere Wiederholung des Kofferexperiments ist nicht mehr nötig. Durch das sanfte Hineingleiten in die Sterblichkeit ist die Frage, ob ich eine oder zwei Frauen liebe, belanglos geworden. Es wird mir ein wenig feierlich zumute, indem ich immer mehr von meinem rasch älter werdenden Konflikt zurücktrete. Ich überlege, ob ich nachher zuerst Sandra oder Judith anrufen werde. Nie zuvor war mir die irdische Seligkeit dieser Frage deutlicher als jetzt. Die Verwirrung legt sich, ich kann wieder richtige Sätze denken. Ich schließe daraus, daß ich meine Entscheidung überlebt habe. Am Flußufer spielt eine abgehalfterte Popgruppe auf einer Bühne. Um die Bühne herum sind ein paar Holzbänke, Tische und Sonnenschirme aufgebaut, außerdem eine Pommesbude und ein Bierausschank. Die Stadtverwaltung nennt dieses jährlich im Sommer wiederkehrende Angebot ein »Kulturprogramm für Daheimgebliebene«. Einzelne vereinsamte Kinder und Männer mit Biergläsern in der Hand suchen sich einen Platz unter den Sonnenschirmen. Ein paar Rentner wanken herbei und lassen sich stöhnend auf die Bänke sinken. Eine Handvoll Obdachlose kommen mit ihren verwahrlosten Frauen und Hunden dazu. Es entsteht ein Bild wie nach der Apokalypse: Die Überlebenden müssen beruhigt werden. Ich gehöre zu ihnen, ich lehne mich gegen einen Baum. Die Musik ist laut und mittelmäßig, aber die Leute sind froh, daß es außer dem Verkehrslärm, den Polizeisirenen und dem Gedröhn der Flugzeuge noch etwas anderes zu hören gibt. Ich erhole mich von den
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