Die Liebesbloedigkeit
faßt die draußen aufgestellten Sonderangebote an. Ich schaue ihr dabei zu, wie sie kurz nacheinander einen Vorteilspack Kindercreme, einen Waschhandschuh, ein Päckchen Puffreis, eine Packung Spritzgebäck, eine Strumpfhose und einen Zwölferpack Teelichter mit den Fingerspitzen berührt. Ich betrachte die Leute, die zu bequem oder zu faul oder zu traurig sind, sich zu Hause ein Frühstück zu machen. Mit verhangenen Gesichtern sitzen sie hinter einer Tasse Kaffee und bittern leise vor sich hin. Personen, die schon morgens mehr als zwei volle Plastiktüten herumtragen, wirken ordinär. Speckige Säuglingsbeine baumeln wie Weißwürste aus den Tragetüchern ihrer Mütter. Rosa Blüten fallen von den Kastanien herunter. Ich fühle mich frei; ich merke es daran, daß ich mit niemandem und nichts innerlich abrechnen muß. Ich finde es bemerkenswert, wie elegant und beinahe unbemerkt ich mich selber beschwindle. Denn alles, was ich im Augenblick über Freiheit und Liebe denke, stimmt nicht ganz. Wie so oft, wenn ich über diese Themen nachdenke, fühle ich einen Moment der Schwäche. Ich betrete deswegen ein Café und verlange einen Cappuccino. Es gibt jemanden, mit dem ich abrechnen muß, und das bin ich selbst. Es plagt mich das Gefühl, daß ich rasch altere und meine Verhältnisse klären muß. Damit meine ich ausschließlich meine Liebesverhältnisse. Immer wieder stelle ich mir die grauenhafte Szene vor, daß ich vielleicht demnächst in einem Krankenhaus liege und gleichzeitig von den beiden Frauen besucht werde, die ich seit vielen Jahren liebe und die voneinander nichts wissen. Diese Konfrontation muß unbedingt verhindert beziehungsweise ausgeschlossen werden: indem ich mich von einer der beiden Frauen trenne. Schon im nächsten Augenblick weiß ich, daß ich eine elegante Regelung nicht schaffe, und übe Ausweich-Sätze: Ihr müßt verstehen, daß ich euch beide liebe! Dann denke ich: Auch dieser Satz ist nicht menschenmöglich. Links von mir sagt ein Kind: Mama! Jedesmal komme ich zu spät zur Musikstunde! So kann es nicht weitergehen! Die Mutter sieht nur auf, das Kind spielt weiter. Die Klage des Kindes tröstet mich. Schon das Leben der Kinder kann so nicht weitergehen! Aber wo ist das Leben, das so weitergehen darf, wie es gerade ist? Rechts von mir packt eine Frau einen neuen Schlafanzug aus und legt die Schlafanzugjacke dem Mann neben ihr auf die Vorderseite seines Oberkörpers. Trotz der Lächerlichkeit, die der Mann in diesen Augenblicken sowohl erleidet als auch ausstrahlt, beneide ich ihn um die Besorgtheit der Frau. Ich denke an Judith. Vermutlich sitzt sie gerade in einer Straßenbahn und fährt in die Vororte. Judith ist mir genauso unverzichtbar wie Sandra, obwohl sie in vieler Hinsicht das vollkommene Gegenteil von Sandra ist. Die Bedienung bringt den von mir bestellten Cappuccino und kassiert ihn gleich ab. Judith ist einundfünfzig, das heißt, sie ist fast so alt wie ich. Ich kenne sie nicht ganz so lange wie Sandra. Bis vor etwa zehn Jahren arbeitete Judith zunehmend verdrossen, aber unermüdlich an ihrer Karriere, dann gab sie auf. Judith ist gescheiterte Konzertpianistin. Kurz vor ihrem vierzigsten Geburtstag nahm sie endgültig hin (endgültig!), daß sie von jüngeren (und vermutlich talentierteren) Musikern überrundet worden war und außer ein paar gelegentlichen Auftritten in der Provinz keine Öffentlichkeit mehr zustande brachte. Seit diesem Schlußstrich hält sich Judith mit Nachhilfestunden über Wasser. Latein, Englisch, Französisch; außerdem gibt sie Klavierstunden. Sie arbeitet täglich mindestens sechs Stunden, manchmal sieben oder acht. Die Wohnungen der Schüler (Jungen und Mädchen zwischen acht und zwölf Jahren und ambitionierte Hausfrauen) sind ihre Arbeitsorte. Sie liegen teilweise weit auseinander, so daß Judith lange Strecken zurücklegen muß und am Abend so kaputt ist wie eine Fabrikarbeiterin.
Ich trinke meine Tasse leer und verlasse das Café. Kurz darauf sehe ich einen entfernten Bekannten von mir, den Panik-Berater Dr. Ostwald. Auch er entdeckt mich, er winkt über die Straße, ich winke zurück. Er ist Hobbysegler und hat mich vor etwa drei Wochen wieder einmal zu einer Segeltour eingeladen. Ich wollte ihn ein für allemal abwimmeln und erzählte in lockerer Manier, daß ich zwei Frauen liebe und deswegen keine Zeit für Hobbys habe. Ich hätte besser den Mund gehalten. Dr. Ostwald erkannte sofort den Problemgehalt meiner Antwort und bot mir eine
Weitere Kostenlose Bücher