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Die Liebeshandlung

Die Liebeshandlung

Titel: Die Liebeshandlung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeffrey Eugenides
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der Zugin Providence eintraf, wurde ihr klar, dass es die Dinge nur noch schlimmer machen würde. Leonard würde denken, er verliere sie wegen seiner Krankheit. Er würde sich sexuell unzulänglich fühlen und hätte damit nicht ganz unrecht. Mitchell war weg, außer Landes, und bald würden sie und Leonard nach Pilgrim Lake ziehen. In Anbetracht all dessen unterließ Madeleine das Beichten. Sie stürzte sich wieder in die Aufgabe, Leonard zu lieben und zu umsorgen, und nach einer Weile kam es ihr so vor, als hätte sie Mitchell an jenem Abend in einer anderen Wirklichkeit geküsst, traumartig und vergänglich.
    In diesem Moment erschien über der Bucht aus Richtung Boston, zwischen kleinen Lämmerwolken hindurch, das zehnsitzige Zubringerflugzeug am Himmel von Cape Cod, im Landeanflug auf die Halbinsel. Gemeinsam mit den anderen, die zum Empfang gekommen waren, sah Madeleine die Maschine aufsetzen und auf der Landebahn ausrollen, während der Propellerwind das Dünengras zu beiden Seiten flach drückte.
    Bodenpersonal rollte eine Metalltreppe an die vordere Tür, die sich von innen öffnete, und die ersten Passagiere stiegen aus.
    Madeleine wusste, die Ehe ihrer Schwester kriselte. Sie wusste, ihre heutige Aufgabe war es, hilfsbereit und verständnisvoll zu sein. Aber als Phyllida und Alwyn aus dem Flugzeug traten, konnte Madeleine sich nicht helfen – lieber hätte sie zum Abschied gewinkt statt zur Begrüßung. Sie hatte gehofft, jede Art elterlichen Besuchs hinauszögern zu können, bis Leonards Nebenwirkungen abgeklungen waren, was, wie alle seine Ärzte behaupteten, bald der Fall sein würde. Der Grund war nicht so sehr, dass Madeleine sich für Leonard geschämt hätte; vielmehr war sie enttäuscht, dassPhyllida ihn jetzt in seinem gegenwärtigen Zustand sah. Leonard war nicht er selbst. Phyllida musste zwangsläufig einen falschen Eindruck bekommen. Madeleine wünschte sich, dass Phyllida den wirklichen Leonard kennenlernte, den Menschen, in den sie sich verliebt hatte und der jeden Moment wiederauftauchen musste.
    Obendrein war es eher unerfreulich, Alwyn zu sehen. In jenen Tagen, als ihre große Schwester ihr das Junggesellinnenüberlebensset geschickt hatte, schien Alwyn auf einer Welle mit den sechziger Jahren und dem daraus hervorgehenden Geburtsrecht, alles anzuprangern, was ihr missfiel, und zu tun, was ihr gerade Spaß machte – etwa nach ihrem ersten Collegejahr das Studium abzubrechen, um auf dem Motorradrücksitz ihres Freundes Grimm durchs Land zu fahren, oder eine überraschend süße weiße Ratte namens Hendrix als Haustier zu halten oder bei einem Kerzenzieher, der auf alte keltische Methoden schwor, in die Lehre zu gehen   –, und mit antimaterialistischer, moralisch engagierter Kreativität voranzupreschen. Aber als Madeleine selbst in das Alter kam, in dem Alwyn damals gewesen war, wurde ihr bewusst, dass der bilderstürmerische und freiheitskämpferische Eifer ihrer Schwester nur im Trend gelegen hatte. Alwyn hatte genau die Sachen gemacht, genau die politischen Meinungen vertreten, die bei all ihren Freunden «in» gewesen waren. Eigentlich sollte man es schade finden, die Sechziger verpasst zu haben, aber Madeleine bedauerte es nicht. Sie hatte das Gefühl, dass ihr eine Menge Unsinn erspart geblieben war und ihre eigene Generation bei allem, was sie an Gutem aus jenem Jahrzehnt geerbt hatte, doch zugleich einen gesunden Abstand davon hielt, der sie vor dem Schleudertrauma bewahrte, das man erlitt, wenn man als Maoistin anfing und als Vorstadtmutter in Beverly, Massachusetts,endete. Als sich herausstellte, dass Alwyn nicht ihr Leben lang auf dem Motorradrücksitz ihres Freundes fahren würde, und Grimm sie auf einem Zeltplatz in Montana, ohne sich auch nur zu verabschieden, sitzenließ, rief Alwyn zu Hause an, um Phyllida zu bitten, ihr auf dem schnellsten Weg Geld für ein Flugticket nach Newark zu schicken, und eineinhalb Tage später zog sie wieder in ihr altes Zimmer in Prettybrook ein. Die darauffolgenden zwei Jahre (während Madeleine die Highschool abschloss) verbrachte sie mit verschiedenen Dienstleistungsjobs und studierte am Community College Graphikdesign. In dieser Zeit hatte Alwyn viel, wenn nicht alles von dem Reiz verloren, den sie in den Augen ihrer kleinen Schwester einmal gehabt hatte. Erneut passte Alwyn sich ihrer Umgebung an. Sie hing in der örtlichen Kneipe, dem Apothecary, mit Freunden herum, denen es genauso wenig gelungen war, aus Prettybrook herauszukommen,

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