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Die Liebeshandlung

Die Liebeshandlung

Titel: Die Liebeshandlung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeffrey Eugenides
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Madeleine statt zehn- oder fünfzehnmal. Zeit und Entfernung taten ihr Werk. Der Brief jedoch drohte dies binnen weniger Augenblicke zunichtezumachen. In einer Welt von IB M-Kugelkopf -Schreibmaschinen und schnittigen Olivettis hatte Madeleine darauf bestanden, ihre Arbeiten auf einem Uraltmodell zu tippen, weshalb ihre Typoskripte aussahen wie aus einem Archiv. Dass Madeleine so altmodische Dinge wie ihre Schreibmaschine liebte, hatte Mitchell Hoffnung gemacht, sie könnte auch ihn lieben. Mit MadeleinesTreue zu der alten Schreibmaschine ging ihr Ungeschick mit allem Mechanischen einher, was erklärte, weshalb sie das Farbband nicht gewechselt hatte und die «a» und «s» farblos blieben (weil diese Tasten vom übermäßigen Gebrauch abgenutzt waren). Offenbar war Bankhead ungeachtet seiner wissenschaftlichen Brillanz der Aufgabe nicht gewachsen, Madeleines Farbband zu wechseln. Offenbar war Bankhead zu selbstbezogen oder zu faul oder womöglich einfach
gegen
die Benutzung mechanischer Schreibmaschinen. Madeleines Brief machte Mitchell klar, dass Bankhead der Falsche für sie war und er der Richtige, dabei hatte er den Umschlag noch gar nicht geöffnet.
    Mitchell wusste, was er tun sollte. Wenn es ihm mit der Aufrechterhaltung seines seelischen Gleichgewichts und seinem Streben, sich von allem Irdischen zu lösen, ernst war, dann sollte er den Brief quer durch die Halle zum Abfalleimer bringen und ihn dort hineinwerfen. Das sollte er tun.
    Stattdessen steckte er den Brief in seinen Rucksack, ganz unten in die Innentasche, wo er nicht an ihn denken musste.
    Als er wieder aufblickte, sah er, wie die Frau aus der Schlange auf ihn zukam. Sie hatte langes, glattes blondes Haar, hohe Wangenknochen und schmale Augen. Sie war ungeschminkt und seltsam gekleidet. Unter einem schlabbrigen T-Shirt trug sie einen langen Rock, der ihr bis zu den Fesseln reichte. Sie hatte Laufschuhe an.
    «Zum ersten Mal in Griechenland?», fragte sie mit einem aufgesetzten Lächeln, wie eine Verkäuferin.
    «Ja.»
    «Seit wann?»
    «Seit drei Tagen.»
    «Ich bin schon drei Monate hier. Die meisten kommenwegen der Akropolis. Die ist ja auch schön. Durchaus. Die Altertümer sind was Besonderes. Aber was mich umhaut, ist die ganze Geschichte. Nicht die der Antike. Ich meine die christliche Geschichte. So viel ist hier passiert! Was meinst du, wo die Thessaloniker waren? Oder die Korinther? Der Apostel Johannes schrieb die ‹Offenbarungen› auf der Insel Patmos. Und so geht es in einem fort. Das Evangelium wurde im Heiligen Land verkündet, aber hier in Griechenland hat die Evangelisierung angefangen. Was bringt
dich
hierher?»
    «Ich bin Grieche», sagte Mitchell. «Meine Anfänge liegen hier.»
    Die Frau lachte. «Hältst du den Sessel für jemanden frei?»
    «Ich warte auf meinen Freund», sagte Mitchell.
    «Ich setze mich nur ganz kurz», sagte die Frau. «Wenn dein Freund kommt, gehe ich.»
    «Kein Problem», sagte Mitchell. «Wir sind ohnehin bald weg.»
    Er dachte, damit wäre es beendet. Die Frau setzte sich und begann suchend in ihrer Schultertasche zu kramen. Mitchell hielt noch einmal im Büro Ausschau nach Larry.
    «Ich studiere hier», fing die Frau wieder an. «Am Neuen Bibelinstitut. Ich lerne Koine. Weißt du, was Koine ist?»
    «Das ist die Sprache, in der das Neue Testament geschrieben wurde. Eine alte demotische Form des Griechischen.»
    «Mann. Die meisten Leute wissen das nicht. Ich bin beeindruckt.» Sie beugte sich zu ihm und sagte leise: «Bist du Christ?»
    Mitchell zögerte mit der Antwort. Das Schlimmste an der Religion waren religiöse Menschen.
    «Ich bin griechisch-orthodox», sagte er schließlich.
    «Das ist doch christlich.»
    «Der Patriarch wird sich freuen, das zu hören.»
    «Du hast eine Menge Humor, nicht wahr?», sagte die Frau und lächelte zum ersten Mal nicht. «Vermutlich benutzt du ihn, um viele Klippen in deinem Leben zu umschiffen.»
    Diese Provokation wirkte. Mitchell wandte den Kopf und sah sie an.
    «Die orthodoxe Kirche ist wie die katholische», sagte sie. «Beide sind christlich, aber nicht immer bibelgläubig. Bei ihnen passiert so viel Rituelles, dass es manchmal von der Botschaft ablenkt.»
    Mitchell entschied, dass es Zeit war, sich abzusetzen. Er stand auf.
    «Nett, dich kennenzulernen», sagte er. «Viel Erfolg mit der Koine.»
    «Nett, dich kennenzulernen!», sagte sie. «Kann ich dir noch eine Frage stellen, bevor du gehst?»
    Mitchell wartete. Die Festigkeit ihres Blicks war

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