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Die Liebeshandlung

Die Liebeshandlung

Titel: Die Liebeshandlung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeffrey Eugenides
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«Literaten», der sich inspirieren lassen will.
    Kerbi hat auf dem Hintern einen Fleck, wo das Fellbeinahe ab ist. Er hat sich da wie wahnsinnig geleckt. Ich muss immer darüber lachen, wie er sich zu einer Brezel verdreht, um an die juckende Stelle heranzukommen. (Ich wünschte, ich könnte das auch, wenn mein Rücken juckt!) Falls es in ein paar Tagen nicht besser ist, werde ich mit ihm zum Tierarzt gehen müssen.
    Ich schreibe dies in unserem Patio, unter dem Sonnenschirm, weil ich versuche, nicht in die Sonne zu gehen. Sogar im Winter trocknet sie hier unten meine Haut aus, egal, wie viel Feuchtigkeitscreme ich draufschmiere. Dein «alter Herr» sitzt jetzt gerade im Wohnzimmer und streitet mit irgendeinem Politiker im Fernsehen (ich erspare Dir die gepfefferte Sprache, aber im Grunde ist alles «Sch   …»). Ich verstehe nicht, wie man an einem Tag so viel Nachrichten sehen kann. Dean lässt Dir ausrichten: «Wenn Du nach Griechenland kommst, sag diesen ganzen Sozialisten da unten: ‹Wir danken Gott für Ronald Reagan.›»
    Apropos «Gott», vor unserer Abreise ist im Seehaus in Michigan für Dich ein Paket von den Paulisten angekommen. Ich weiß, dass Du gedenkst, Dich für Theologie zu bewerben, und dass es damit zu tun haben könnte, aber es hat mich doch etwas verwundert. Dein letzter Brief – nicht die Karte aus Venedig, sondern der auf dem blauen Papier, das zu einem Brief zusammengefaltet wird (ich glaube, sie heißen Aerogramm?) – klang nicht nach Dir. Was meintest Du damit, dass das «Königreich Gottes» kein Ort, sondern ein Geisteszustand ist und dass Du geglaubt hast, Du sähest einen «Schimmer» davon?Du weißt ja, dass ich jahrelang nach einer Kirche für Euch Jungs gesucht habe und nie richtig imstande war, an irgendetwas zu glauben, sosehr ich auch wollte. Deshalb glaube ich, dass ich Dein Interesse für Religion verstehe. Aber diese ganze «Mystik», über die Du in Deinen Briefen schreibst, und die «Dunkle Nacht der Seele» klingen vielleicht ein bisschen «abgedreht», wie Dein Bruder Winston sagen würde. Du bist jetzt seit vier Monaten weg, Mitchell; wir haben Dich nicht gesehen, und es ist schwer für uns, uns ein vernünftiges Bild davon zu machen, wie es Dir geht. Ich bin froh, dass Larry bei Dir ist, weil ich glaube, ich würde mir noch mehr Sorgen machen, wenn Du ganz allein unterwegs wärst. Dein Vater und ich sind immer noch nicht besonders begeistert davon, dass Du nach Indien fährst, aber Du bist jetzt erwachsen und kannst tun, was Du willst. Wir sind nur sehr beunruhigt, dass wir Dich nicht erreichen können oder Du uns im Notfall nicht erreichen kannst.
    Gut, erst mal genug der mütterlichen Ratschläge. Sosehr wir Dich auch vermissen und besonders an Weihnachten vermissen werden, sind Dein Vater und ich doch sehr glücklich, dass Du dieses große Abenteuer unternehmen konntest. Vom Tag Deiner Geburt an, Mitchell, warst Du für uns das kostbarste Geschenk, und obwohl ich mir nicht sicher bin, an «Gott» zu glauben, danke ich täglich «irgendeinem da oben», dass er uns einen Sohn geschenkt hat, der so wunderbar, liebevoll und begabt ist. Seit Du klein warst, wusste ich, dass Du heranwachsen und etwas aus Dir machen wirst. Wie Grammy immer zu Dir sagte: «Ziel hoch, Junge, ziel hoch.»
    Ich habe in einem Antiquitätengeschäft in Vero einen wirklich hübschen kleinen Schreibtisch gefunden und lasse ihn hier ins Gästezimmer stellen, dann ist es fertig, wenn Du zu Besuch kommst. Mit all den Erfahrungen, die Du auf Deiner Reise gemacht haben wirst, willst Du vielleicht
     
    So weit war er gekommen, als jemand ihm von hinten auf die Schulter klopfte. Es war eine Frau, älter als er, über dreißig.
    «Da ist was frei geworden», sagte sie.
    Mitchell dankte ihr. Er steckte Lillians Brief zurück in den Umschlag und ging zu dem freien Schalter. Während er seine Reiseschecks unterschrieb, wurde der nächste Schalter frei, und die Frau, die hinter ihm gestanden hatte, ging hin. Sie lächelte ihn an, und er lächelte zurück. Nachdem der Kassierer ihm seine Drachmen ausbezahlt hatte, sah Mitchell sich nach Larry um.
    Da er ihn nicht entdecken konnte, setzte er sich auf einen Sessel in der Halle und holte Madeleines Brief hervor. Er war sich nicht sicher, ob er ihn lesen wollte. In der vergangenen Woche, nach der unglaublich durchsoffenen Nacht in Venedig, hatte Mitchell sein seelisches Gleichgewicht wiedergefunden. Das bedeutete, er dachte zwei- oder dreimal am Tag an

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