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Die Liebeshandlung

Die Liebeshandlung

Titel: Die Liebeshandlung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeffrey Eugenides
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zermürbend.
    «Bist du erlöst?»
    Sag einfach ja, dachte er. Sag ja und geh.
    «Das ist schwer zu sagen», sagte er.
    Sofort erkannte er seinen Fehler. Die Frau stand auf, und ihre blauen Augen bohrten sich in seine. «Nein, ist es nicht», sagte sie. «Es ist überhaupt nicht schwer. Du bittest nur Jesus Christus, in dein Herz zu kommen, und Er wird kommen. So hab ich’s gemacht. Und es hat mein Leben verändert. Ich war nicht immer Christin. Ich habe den Großteil meines Lebens abseits von Gott verbracht. Ich kannte Ihn nicht. Er war mir egal. Ich war nicht auf Drogen oder so. Ich schlug mir nicht die Nächte um die Ohren. Aber da war diese Leere in mir. Weil ich nur für mich gelebt habe.»
    Zu seiner Überraschung merkte Mitchell, dass er ihr zuhörte. Nicht ihrem fundamentalistischen Sermon darüber,dass sie vom Herrn erlöst worden war oder Ihn als ihren Erlöser annahm. Sondern dem, was sie über ihr Leben sagte.
    «Es ist schon komisch. Du wirst in Amerika geboren. Du wächst heran, und was erzählen sie dir? Sie erzählen dir, du hättest das Recht, nach Glück zu streben. Und glücklich sein heißt, sich eine Menge schöne Sachen anzuschaffen, stimmt’s? Ich hatte das alles. Ein Haus, einen Job, einen Freund. Aber ich war nicht glücklich. Ich war nicht glücklich, weil ich tagaus, tagein nur an mich dachte. Ich dachte, die Welt dreht sich um mich. Aber du wirst es nicht glauben: Sie tut es nicht!»
    Das klang eigentlich ganz vernünftig und wahr. Mitchell dachte, er könnte ihr zustimmen und dann gehen.
    Doch bevor er dazu kam, sagte die Frau: «Als wir in der Schlange standen, hast du einen Brief gelesen. Er war von deiner Mutter.»
    Mitchell hob das Kinn: «Woher weißt du das?»
    «Ich habe es gerade eben gespürt.»
    «Du hast mir über die Schulter gesehen.»
    «Hab ich nicht!», sagte sie und gab ihm einen scherzhaften Klaps. «Geh jetzt ruhig. Gott hat mir gerade eben ins Herz gelegt, dass du einen Brief von deiner Mutter gelesen hast. Trotzdem möchte ich dir was sagen. Der Herr hat auch dir einen Brief an American Express geschickt. Weißt du, was für einen? Mich.
Ich bin
dieser Brief. Der Herr hat mich ohne mein Wissen geschickt, damit ich hinter dir in der Schlange stehen und dir sagen konnte, wie sehr der Herr dich liebt und dass Er für dich gestorben ist.»
    Genau in diesem Moment tauchte Larry neben den Aufzügen auf.
    «Da ist mein Freund», sagte Mitchell. «Es war schön, mit dir zu reden.»
    «Es war schön, mit
dir
zu reden. Eine gute Zeit in Griechenland, und Gott segne dich.»
    Er war schon halb durch die Halle, als sie ihm noch einmal auf die Schulter klopfte.
    «Ich wollte dir nur das hier geben.»
    Sie hielt ein Neues Testament im Taschenformat in der Hand. Grün wie ein Blatt.
    «Nimm das und lies die Heilsbotschaft. Lies die frohe Botschaft von Jesus. Und denk dran, es ist nicht kompliziert. Es ist einfach. Das einzig Wichtige ist, dass du Jesus Christus als deinen Herrn und Erlöser annimmst, dann wirst du das ewige Leben erlangen.»
    Um sich von ihr loszueisen – und sie zum Schweigen zu bringen   –, nahm Mitchell das Buch und ging weiter zum Ausgang.
    «Wo warst du?», sagte er zu Larry, als er bei ihm ankam. «Ich warte schon stundenlang.»
    Zwanzig Minuten später waren sie unterwegs nach Delphi. Der Bus durchquerte kilometerweit das dicht an dicht bebaute Becken von Athen, bevor er zu einer Küstenstraße emporfuhr. Die anderen Passagiere hielten Bündel auf dem Schoß: Beute aus der großen Stadt. Alle paar Kilometer kennzeichnete ein Wegkreuz die Stelle eines tödlichen Unfalls. Einmal hielt der Busfahrer, um eine Münze in den Opferstock zu werfen. Später parkte er den Bus vor einem Café am Straßenrand und ging ohne Erklärung hinein, um Mittag zu essen, während die Passagiere geduldig auf ihren Sitzen warteten. Larry stieg aus, weil er rauchen und einen Kaffee trinken wollte. Mitchell zog Madeleines Brief aus dem Rucksack, warf noch einmal einen Blick darauf und steckte ihn wieder weg.
    Am Nachmittag trafen sie in Korinth ein. Nachdem sie ineinem warmen Nieselregen um den Apollontempel getrottet waren, begaben sie sich, um aus dem Regen zu kommen, in ein Restaurant. Mitchell holte sein Neues Testament heraus, um sich wieder mit dem vertraut zu machen, was Paulus 55   n.   Chr. an die Korinther geschrieben hatte.
    Er las:
     
    Denn es steht geschrieben: Ich will zunichte machen die Weisheit der Weisen und den Verstand der Verständigen

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