Die Liebeshandlung
wieder zugehen? Hatte
Madeleine
das geschrieben? Er hatte gehört, Frauen seien in ihrem Denken genauso schmutzig wie Männer, aber er hatte es nie geglaubt. Wenn Madeleine auf dieser Zugfahrt beim Durchblättern ihrer
Vogue
allerdings an Sex gedacht hatte und sie mit dem festen Vorsatz zu vögeln in das Dachzimmer gekommen war, dann war er offenbar überhaupt nie imstande gewesen, sie zu verstehen. Dieser Gedanke hielt ihn eine ganze Weile aufrecht, während über ihm der Sturm tobte. Von all den anderen Dingen, für die Madeleine sich hätte entscheiden können, hatte sie sich hingesetzt und ihm einen Brief geschrieben. Sie hatte geschrieben, sie habe ihn gern geküsst und im Zug den Drang verspürt, auszusteigen und nach New York zurückzufahren. Sie hatte seinen Namen getippt, den Umschlag mit der Zunge angefeuchtet und ihren Absender draufgetippt, damit er ihr antworten konnte, damit er wusste, wo sie zu finden war, wenn er sie suchen wollte.
Jeder Buchstabe war ein Liebesbrief.
Natürlich hätte er, wie es mit Liebesbriefen so geht, besser ausfallen können. Es war zum Beispiel nicht sehr vielversprechend, dass Madeleine behauptete, ihn das nächste halbe Jahrhundert nicht sehen zu wollen. Es war entmutigend, dasssie darauf bestanden hatte, es sei ihr «ernst» mit ihrem «festen Freund» . (wenn auch ermunternd, dass es «Probleme» gab). Was Mitchell aus dem Brief vor allem herauslas, war die schmerzliche Tatsache, dass er seine Chance verpasst hatte. Seine Chance bei Madeleine war früh gekommen, im ersten Studienjahr, und er hatte es verpasst, sie zu ergreifen. Das deprimierte ihn noch mehr, weil es darauf hindeutete, dass er dazu bestimmt war, ein Voyeur zu bleiben, ein aussichtsloser Kandidat, ein Verlierer. Es war genau so, wie Madeleine sagte: Er war nicht Manns genug für sie.
Die nächsten Tage waren eine einzige geistige Trübsal. In Kalamata, einer Stadt am Meer, die anders, als Mitchell es erwartet hatte, nicht nach Oliven, sondern nach Benzin roch, begegnete er dauernd seinen Doppelgängern. Der Kellner im Restaurant, der Schiffsmechaniker, der Sohn des Hotelbesitzers, die Bankkassiererin – sie sahen alle genauso aus wie er. Er ähnelte sogar einigen Ikonen in der zerfallenden Kirche des Ortes. Statt ihm heimatliche Gefühle zu verschaffen, zehrte das an Mitchell – als wäre er wieder und wieder fotokopiert worden, eine blasse Reproduktion eines deutlicheren, dunkleren Originals.
Es wurde kälter. Nachts fiel die Temperatur auf unter fünf Grad. Wo sie auch hinkamen, standen halbfertige Gebäude an den felsigen Hügeln. Zur Förderung von Neubauten hatte das griechische Parlament ein Gesetz beschlossen, das eine Steuerbefreiung für Leute mit unfertigen Häusern vorsah. Die Griechen hatten clever reagiert, indem sie das Dachgeschoss ihrer Häuser auf Dauer unvollendet ließen, während sie gemütlich darunter hausten. Im Dorf Itylo schliefen Mitchell und Larry zwei kalte Nächte lang für je einen Dollar im unfertigen zweiten Geschoss eines Hauses, das der Familie Lamborghos gehörte. Iannis, der älteste Sohn der Familie,hatte die beiden Amerikaner angesprochen, als sie auf dem Marktplatz aus dem Bus gestiegen waren. Bald darauf zeigte er ihnen das mit Stahlbetonträgern und Schlackensteinblöcken übersäte Dach, wo sie dann unter den Sternen schliefen und zum ersten und einzigen Mal auf ihrer Reise ihren Schlafsack und ihre Isomatte benutzten.
In den nächsten Tagen freundete Larry sich trotz der Sprachbarriere mit Iannis an. Während Mitchell im einzigen Café des Dorfes Kaffee trank und insgeheim noch unter Madeleines Brief litt, wanderten Iannis und Larry durch die umliegenden, von Ziegen überlaufenen Hügel. Iannis hatte die pechschwarze Mähne und das über der Brust offene Hemd eines griechischen Schlageridols. Seine Zähne waren schlecht, und er hatte etwas Klettenhaftes, aber er schien ganz nett zu sein, wenn man selbst Lust darauf hatte, nett zu sein, was bei Mitchell nicht der Fall war. Als Iannis ihnen allerdings anbot, sie nach Athen zurückzufahren, weil er, wie er sagte, dort zu tun habe, sah Mitchell keine Möglichkeit, das abzulehnen, und am nächsten Morgen fuhren sie in Iannis’ winzigem, in Jugoslawien hergestelltem Automobil los, Larry vorn, Mitchell hinten auf dem Rüttelsitz.
Weihnachten stand vor der Tür. Die Straßen rings um ihr Hotel, ein unscheinbares graues Gebäude, das Iannis ihnen empfohlen hatte, waren mit Lichtern geschmückt. Schon die Temperatur
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