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Die Liebeshandlung

Die Liebeshandlung

Titel: Die Liebeshandlung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeffrey Eugenides
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zu begegnen!», sagte Janice. «Gott hat mir ins Herz gelegt, dich anzusprechen, und nun bist du bereit, dich erlösen zu lassen! Gelobt sei Jesus!» Als Nächstes sprach sie über die Apostelgeschichte und Pfingsten, über Jesus, der zum Himmel auffuhr, den Christen aber den Heiligen Geist, den Tröster, den Wind, der höher ist als alle Vernunft, zum Geschenk machte. Sie erklärte die Gnadengaben des Geistes, Zungenreden, das Heilen von Kranken. Für Mitchell klang sie verzückt, aber auch als könnte sie mit sonst jemandem sprechen. «Der Geist bläst, wo er will. Er ist so wirklich wie der Wind. Willst du jetzt mit mir beten, Mitchell? Willst du niederknien und Jesus als deinen Herrn und Erlöser annehmen?»
    «Ich kann jetzt gerade nicht.»
    «Wo bist du?»
    «In meinem Hotel. In der Lobby.»
    «Dann warte, bis du allein bist. Geh allein in ein Zimmer, knie nieder und bitte den Herrn, in dein Herz zu kommen.»
    «Hast du schon mal in Zungen geredet?», fragte Mitchell.
    «Einmal wurde mir die Gabe des Zungenredens gegeben, ja.»
    «Wie kommt es dazu?»
    «Ich habe darum gebeten. Manchmal musst du bitten. Eines Tages beim Beten fing ich gerade an, dafür zu beten, die Gabe der Zungen zu empfangen, und mit einem Mal wurde es im Raum ganz warm. Es war wie in Indiana im Sommer.
Feucht
. Da war eine Präsenz. Ich spürte sie. Und dann öffnete ich den Mund, und Gott gab mir die Gabe der Zungen.»
    «Was hast du gesagt?»
    «Ich weiß es nicht. Aber es war ein Mann da, ein Christ, der die Sprache erkannte, in der ich redete. Es war Aramäisch.»
    «Die Sprache von Jesus.»
    «Das hat er auch gesagt.»
    «Kann ich genauso in Zungen reden?»
    «Du kannst darum bitten. Sicher kannst du das. Sobald du Jesus als deinen Herrn und Erlöser angenommen hast, bittest du den Vater einfach, Er möge dir in Jesu Namen die Gabe der Zungen schenken.»
    «Und was dann?»
    «Öffnest du den Mund!»
    «Und dann geschieht es einfach?»
    «Ich bete für dich. Gelobt sei Gott!»
    Nachdem Mitchell aufgelegt hatte, ging er sich die Akropolis ansehen. Er hatte seine beiden übriggebliebenen Hemden an, damit er nicht fror. In der Plaka kam er an Souvenirständen vorbei, wo Imitationen von griechischen Vasen und Tellern, außerdem Sandalen und Perlenschnüre verkauft wurden. Ein T-Shirt auf einem Kleiderbügel verkündete: «Küss mich, ich bin Grieche.» Mitchell fing an, die staubigen Serpentinen zum antiken Plateau hinaufzusteigen.
    Oben angekommen, drehte er sich um und blickte hinunter auf Athen, eine Riesenbadewanne voll schmutziger Seifenlauge. Darüber waberten dramatisch Wolken, durchbohrt von Sonnenstrahlen, die das ferne Meer wie mit Scheinwerfernbeleuchteten. Die majestätische Höhe, der reine Duft der Pinien und das goldene Licht verliehen der Stimmung auf der Akropolis eine Anmutung von attischer Klarheit. Der Parthenon war eingerüstet, genauso wie ein kleinerer Tempel daneben. Wenn man über das und ein einsames Wärterhäuschen am hinteren Ende der Kuppe hinwegsah, gab es nirgendwo Anzeichen von Bürokratie, und Mitchell zögerte nicht, umherzustreifen, wo er wollte.
    Der Wind bläst, wo er will.
    Anders als jede andere berühmte Touristensehenswürdigkeit, die Mitchell in seinem Leben gesehen hatte, war der Parthenon in Wirklichkeit beeindruckender; keine Ansichtskarte oder Fotografie konnte ihm gerecht werden. Er war größer und schöner, heroischer erdacht und erbaut, als er es sich vorgestellt hatte.
    Larry war nirgendwo zu sehen. Mitchell ging über die Felsen hinter den kleinen Tempel. Als er sich sicher war, dass niemand ihn sehen konnte, kniete er nieder.
    Einer Frau zuzuhören, die dauernd von ihrem «Leben für Christus» redete, war vielleicht genau die Art von Demütigung, die er brauchte, um sein altes aufgeblasenes Selbst sterben zu lassen. Was, wenn die Sanftmütigen das Erdreich
tatsächlich
besäßen? Was, wenn die Wahrheit einfach wäre, sodass jeder sie begreifen könnte, und nicht komplex, sodass man einen Doktortitel benötigte? Konnte man die Wahrheit nicht durch ein anderes Organ als das Gehirn erkennen, und ging es beim Glauben nicht ebendarum? Mitchell wusste keine Antwort auf diese Fragen, doch als er da stand und von dem Athene geweihten uralten Berg hinunterschaute, erwog er einen revolutionären Gedanken: Er und all seine aufgeklärten Freunde wussten nichts vom Leben, und diese (verrückte?) Lady wusste womöglich etwas Großes.
    Auf der Akropolis kniend, schloss Mitchell die Augen.
    Er war sich

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