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Die Liebeshandlung

Die Liebeshandlung

Titel: Die Liebeshandlung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeffrey Eugenides
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das Problem zu lösen versucht, wie man über etwas schreiben soll – auch über etwas Wirkliches und Schmerzliches, Selbstmord beispielsweise   –, wenn die Berge, die darüber schon geschrieben worden sind, einen jeder Originalität des Ausdrucks berauben.»
    Was Thurston sagte, erschien Madeleine einleuchtend und schrecklich falsch zugleich. Vielleicht hatte er recht, aber das durfte nicht sein.
    «Unterhaltungsliteratur oder Wie reitet man einen toten Gaul?», schlug Zipperstein witzelnd als Titel einer Arbeit vor.
    Ein Anfall von Heiterkeit befiel die Runde. Als Madeleine sich umschaute, starrte Leonard sie an. Am Ende des Seminars sammelte er seine Bücher ein und ging.
    Von da an sah sie Leonard gelegentlich. Sie sah ihn eines Nachmittags quer über den großen Rasen gehen, nichts auf dem Kopf, im winterlichen Sprühregen. Sie sah ihn bei Mutt & Geoff’s ein überquellendes Buddy-Cianci-Sandwich essen. Sie sah ihn eines Morgens an der South Main auf einen Bus warten. Immer war Leonard allein, immer wirkte er verloren und ungekämmt wie ein riesengroßer, mutterloser Junge. Zugleich kam er ihr irgendwie älter vor als die meisten anderen auf dem Campus.
    Es war Madeleines letztes Semester vor dem Collegeabschluss, eine Zeit, in der sie sich eigentlich ein bisschen amüsieren sollte, was sie nicht tat. Trotzdem hatte sie nie das Gefühl gehabt, sie sei schlecht dran. Sie redete sich lieber ein, ihr gegenwärtiger Zustand ohne Freund tue gut und halte ihr den Kopf frei. Aber als sie sich jetzt fragte, wie es wohl wäre, einen Tabak kauenden Typen zu küssen, begann sie zu zweifeln, ob sie sich nicht etwas vormachte.
    Rückblickend musste Madeleine sich eingestehen, dass ihr Liebesleben auf dem College hinter den Erwartungen zurückgeblieben war. Das Mädchen, mit dem sie im ersten Semester zusammengewohnt hatte, Jennifer Boomgaard, war schon in der Einführungswoche zum Gesundheitsdienst gerannt, um sich ein Pessar anpassen zu lassen. Nicht daran gewöhnt, ihr Zimmer mit jemandem zu teilen, erst recht nicht mit einer Fremden, fand Madeleine Jennys Intimitäten etwas voreilig. Sie wollte Jennifers Pessar, das aussah wie eine ungekochte Ravioli, nicht gezeigt bekommen, und sie wollte ganz sicher nicht spüren, wie sich das spermizidhaltige Gel, von dem Jennifer ihr einen Spritzer anbot, auf ihrer Handfläche anfühlte. Madeleine war schockiert, als Jennifer begann, mit eingesetztem Pessar auf Partys zu gehen, schockiert, als sie es beim Spiel Harvard gegen Brown trug undes eines Morgens auf ihrem Minikühlschrank liegenließ. Als dann im Winter eine Anti-Apartheids-Kundgebung mit Bischof Desmond Tutu auf dem Campus stattfand, fragte sie Jennifer unterwegs zum Auftritt des großen Geistlichen: «Hast du auch dein Pessar drin?» Die restlichen vier Monate lebten sie zu zweit auf vierundzwanzig Quadratmetern, ohne ein weiteres Wort zu wechseln.
    Obwohl Madeleine sexuell nicht unerfahren ans College gekommen war, glich ihre Lernkurve das erste Jahr hindurch einer flachen Linie. Abgesehen von der Einmal-und-nie-wieder-Knutscherei mit einem Uruguayer namens Carlos, einem Sandalen tragenden Ingenieurstudenten, der bei gedämpftem Licht aussah wie Che Guevara, hatte sie nur mit einem Jungen von der Highschool herumgemacht, der zu einem Schnupperwochenende für Brown-Bewerber auf den Campus gekommen war. Sie hatte Tim Schlange stehend im Ratty entdeckt, wo er sein Mensatablett unter sichtlichem Zittern die Metallschiene entlangschob. Sein blauer Blazer war ihm zu groß. Den ganzen Tag war er über den Campus geirrt und hatte mit niemandem gesprochen. Jetzt hielt er es vor Hunger nicht mehr aus, war sich aber nicht sicher, ob er überhaupt in der Mensa essen durfte. Tim schien der einzige Mensch an der Brown zu sein, der sich verlorener fühlte als Madeleine. Sie half ihm, sich im Ratty zurechtzufinden, und danach machte sie für ihn eine kleine Führung durch die Universität. Schließlich, gegen halb elf Uhr abends, landeten sie in Madeleines Wohnheimzimmer. Tim hatte die langbewimperten Augen und hübschen Gesichtszüge einer teuren Trachtenpuppe – eines kleinen Prinzen oder jodelnden Hirtenjungen. Sein blauer Blazer war auf dem Fußboden und Madeleines Bluse aufgeknöpft, als Jennifer Boomgaard hereinplatzte. «Oh», sagte sie, «pardon», und blieb an der Türstehen, den Blick lächelnd gesenkt, als genösse sie es schon im Voraus, wie dieser saftige Bissen Klatsch bei den anderen auf dem Stockwerk ankommen

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