Die Liebeshandlung
am nächsten kam. Sie hörten Nazareth, Black Sabbath, Judas Priest und Motordeath, eine Band, die wirklich grottenschlecht war, aber in deren Shows nackte Frauen Tieropfer darbrachten. Man konnte durchaus ein Fan des Dunklen, ein Connaisseur der Verzweiflung sein.
Eine Zeitlang turtelte die – damals noch namenlose – Krankheit mit ihm. Sie sagte: Komm näher. Sie schmeichelte Leonard damit, dass er
mehr
als die meisten Menschen fühle, empfindsamer,
tiefgründiger
sei. Nachdem er einen «intensiven» Film wie
Hexenkessel
gesehen hatte, war er erschüttert, unfähig zu sprechen, und drei Mädchen mussten ihn eine Stunde lang umarmen, um ihn zurückzuholen. Unbewusst begann er seine Empfindsamkeit auszuschlachten. In der Freistunde oder bei irgendeiner Party war er «echt deprimiert», und bald bildete sich eine besorgt dreinschauende Gruppe um ihn.
Er war ein unbeständiger Schüler. Seine Lehrer bezeichneten ihn als «intelligent, aber unmotiviert». Statt Schularbeiten zu machen, lag er lieber auf der Couch und sah fern. Er sah sich die
Tonight Show
, den Spätfilm und den Mitternachtsfilm an. Morgens war er dann erschöpft. Er schlief im Unterricht ein und lebte erst nach Schulschluss auf, wenn er sich mit seinen Freunden herumtrieb. Anschließend ging er nach Hause, sah fern und blieb lange auf, und der Kreislauf fing von vorne an.
Und
immer noch
war das nicht die Krankheit. Deprimiert zu sein über den Zustand der Welt – Luftverschmutzung, Hungersnöte, die Invasion von Osttimor – war nicht die Krankheit. Ins Bad zu gehen und sein Gesicht anzustarren, die schaurigen Adern unter seiner Haut zu bemerken, die Poren auf seiner Nase zu untersuchen, bis er davon überzeugt war, ein abscheuliches Wesen zu sein, das kein Mädchen je lieben konnte – auch das war nicht die Krankheit. Es war ein charakterologisches Vorspiel, aber mit Chemie oder Somatik hatte es nichts zu tun. Es war die Anatomie der Melancholie, nicht die seines Gehirns.
Seine erste wirkliche depressive Episode hatte Leonard im Herbst des zweiten Highschool-Jahrs. Eines Donnerstagabends kam Godfrey, der gerade den Führerschein gemacht hatte, mit dem Honda seiner Eltern vorbei und holte ihn ab. Sie fuhren mit aufgedrehter Anlage herum. Godfrey war unter die Weicheier gegangen. Er bestand darauf, Steely Dan zu hören.
«Das ist doch Mist», sagte Leonard.
«Nein, Mann, du musst ihnen eine Chance geben.»
«Lass uns ein bisschen Sabbath hören.»
«Ich steh nicht mehr auf so was.»
Leonard sah seinen Freund an. «Was ist denn mit dirlos?», sagte er, obwohl er die Antwort schon kannte. Godfreys Eltern waren religiös (keine Methodisten wie Leonards Familie, sondern Leute, die tatsächlich die Bibel lasen). Sie hatten Godfrey den Sommer über in ein kirchliches Camp geschickt, und da, inmitten der Kiefern und Spechte, hatten die Pfarrer ihr heimtückisches Werk an ihm verrichtet. Zwar trank er noch und rauchte Gras, aber er hatte seine Judas Priest und Motordeath aufgegeben. Leonard machte das nicht viel aus, nicht so viel jedenfalls. Die waren ihm auch schon auf die Nerven gegangen. Das bedeutete aber nicht, dass er Godfrey ungeschoren davonkommen lassen würde.
Er zeigte auf das Achtspurgerät. «Das Zeug ist doch tuntig.»
«Handwerklich ist das Album wirklich gut», beharrte Godfrey. «Donald Fagen hat eine klassische Ausbildung.»
«Ich will dir mal was sagen, Gott-frey, wenn wir jetzt noch weiter hier rumfahren und uns diese Schwulenscheiße anhören, kann ich genauso gut die Hose runterziehen und mir von dir einen blasen lassen.»
Und dann suchte er im Handschuhfach nach etwas Reizvollerem und kramte eine Big-Star-Kassette hervor, die er gern mochte.
Kurz vor Mitternacht setzte Godfrey ihn vor seinem Haus ab, und Leonard ging hinein und sofort ins Bett. Als er am nächsten Morgen aufwachte, stimmte irgendetwas nicht mit ihm. Sein Körper tat weh. Seine Glieder fühlten sich an wie mit Zement ummantelt. Er wollte nicht aufstehen, aber Rita kam herein und bellte ihn an, er werde zu spät kommen. Irgendwie schaffte er es, aus dem Bett zu klettern und sich anzuziehen. Das Frühstück auslassend, verließ er ohne Rucksack das Haus und ging zur Cleveland High. Ein Unwetter zog auf, das Licht über den schäbigen Läden und den Überführungenwar dämmrig. Den ganzen Tag lang, während Leonard seinen Körper von einem Klassenraum zum anderen schleppte, ballten sich unheilvolle Wolken in Blutergussfarben vor den Fenstern. Die Lehrer
Weitere Kostenlose Bücher