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Die Liebeshandlung

Die Liebeshandlung

Titel: Die Liebeshandlung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeffrey Eugenides
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hackten auf ihm herum, weil er seine Bücher nicht dabeihatte. Er musste sich Papier und Stifte von Mitschülern leihen. Zweimal schloss er sich in einer Toilettenkabine ein und fing aus unerkennbaren Gründen an zu weinen. Godfrey, der genauso viel getrunken hatte wie er, schien es gutzugehen. Sie gingen zusammen Mittag essen, aber Leonard hatte keinen Appetit.
    «Was ist mit dir, Mann? Bist du stoned?»
    «Nein. Ich glaube, ich werde krank.»
    Um halb vier ging Leonard, statt sich beim Training der Juniorenfootball-Schulmannschaft einzufinden, direkt nach Hause. Ein Gefühl von bevorstehendem Unheil, von universeller Bosheit verfolgte ihn auf dem ganzen Weg. Äste von Bäumen gestikulierten drohend an den Rändern seines Blickfelds. Telefonleitungen hingen wie Pythons zwischen den Masten. Aber als er zum Himmel aufblickte, stellte er überrascht fest, dass der wolkenlos war. Kein Sturm. Schönes Wetter, die Sonne strahlte. Er kam zu dem Schluss, dass mit seinen Augen etwas nicht stimmte.
    In seinem Zimmer holte er seine medizinischen Fachbücher hervor, um herauszufinden, was mit ihm los war. Er hatte sich bei einem privaten Flohmarkt gleich eine ganze Serie davon gekauft, sechs riesengroße Lehrbücher mit Farbillustrationen und köstlich grausigen Titeln:
Atlas der Nierenkrankheiten, Atlas der Gehirnkrankheiten, Atlas der Hautkrankheiten
und so weiter. Es waren diese Fachbücher, die Leonards Interesse an Biologie geweckt hatten. Die Fotos von anonymen Kranken übten eine morbide Anziehung auf ihn aus. Es machte ihm Spaß, Janet besonders ekelhafte Bilder zuzeigen, sodass sie kreischte. Am besten war dafür der
Atlas der Hautkrankheiten
geeignet.
    Selbst bei Licht konnte Leonard in seinem Zimmer nicht allzu gut sehen. Er hatte das Gefühl, hinter seinen Augen halte etwas Physisches das Licht ab. Im
Atlas der Krankheiten des endokrinen Systems
stieß er auf etwas, was Hypophysenadenom hieß. Es war ein typischerweise kleiner Tumor, der sich in der Hypophyse bildete und oft auf den Sehnerv drückte. Er verursachte Blindheit und veränderte die Funktion der Hypophyse. Dies führte wiederum zu «niedrigem Blutdruck, Fatigue und der Unfähigkeit, schwierige oder belastende Situationen zu bewältigen». Zu viel Hypophysenfunktion, und man wurde ein Riese, zu wenig, und man war ein Nervenbündel. So unmöglich es sich anhörte, aber Leonard schien an beiden Zuständen zugleich zu leiden.
    Er klappte das Buch zu und sank auf sein Bett. Ihm war, als würde er gewaltsam ausgeleert, als zöge ein großer Magnet sein Blut und seine Flüssigkeiten hinunter in die Erde. Er weinte wieder, unaufhaltsam, und sein Kopf glich dem Kronleuchter im Haus seiner Großeltern in Buffalo, der zu hoch hing, als dass sie drangekommen wären, und an dem jedes Mal, wenn er sie besuchte, eine Glühbirne weniger brannte. Sein Kopf war ein alter Kronleuchter, der allmählich erlosch.
    Als Rita an diesem Abend nach Hause kam und Leonard vollständig angezogen im Bett vorfand, sagte sie, er solle sich zum Essen fertig machen. Als er antwortete, er habe keinen Hunger, deckte sie den Tisch für einen weniger. An dem Abend ging sie nicht noch einmal in sein Zimmer.
    Von seinem Zimmer im Erdgeschoss aus konnte Leonard seine Mutter und seine Schwester beim Essen über ihn reden hören. Janet, die sich gewöhnlich nicht auf seine Seiteschlug, fragte, was ihm denn fehle. Rita sagte: «Nichts. Er ist bloß faul.» Er hörte, wie sie Geschirr spülten, wie Janet danach in ihr Zimmer hinaufging und telefonierte.
    Am nächsten Morgen schickte Rita Janet zu ihm, damit sie nach ihm sah. Sie trat an sein Bett.
    «Was ist los mit dir?»
    Schon bei dieser kleinen Mitgefühlsäußerung wäre Leonard am liebsten wieder in Tränen ausgebrochen. Er musste dagegen ankämpfen und legte deshalb einen Arm übers Gesicht.
    «Tust du nur so?», flüsterte Janet.
    «Nein», brachte er hervor.
    «Hier drin stinkt es.»
    «Dann geh doch», sagte Leonard, obwohl er wollte, dass sie blieb, ja es sich geradezu wünschte, dass seine Schwester zu ihm ins Bett kroch wie früher, als sie klein waren.
    Er hörte Janet durchs Zimmer und den Flur entlanggehen. Er hörte sie sagen: «Mom, ich glaube, er ist wirklich krank.»
    «Wahrscheinlich schreiben sie eine Arbeit, für die er nicht gelernt hat», sagte Rita, freudlos gackernd.
    Kurz darauf gingen sie, und im Haus war es still.
    Leonard lag unter seiner Decke begraben. Der Gestank, den Janet gerochen hatte, war der seines verwesenden

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