Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Liebeshandlung

Die Liebeshandlung

Titel: Die Liebeshandlung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeffrey Eugenides
Vom Netzwerk:
Körpers. Sein Rücken und sein Gesicht waren mit Pickeln übersät. Er hätte aufstehen und sich mit Phisoderm waschen müssen, brachte aber nicht die Energie dazu auf.
    In einer Ecke seines Zimmers stand sein altes Tischhockeyspiel, die Bruins gegen die Blackhawks. Als Zwölfjähriger hatte Leonard sich die nötige Geschicklichkeit angeeignet, seine ältere Schwester und alle seine Freunde zu besiegen. Er bestand darauf, immer die Bruins zu sein. Für jeden Spieler hatte er sich einen Namen ausgedacht, einenitalienischen, einen irischen, einen indischen und einen frankokanadischen. In einem nur für diesen Zweck angelegten Heft, mit der Zeichnung eines Hockeyschlägers und eines flammenden fliegenden Pucks vorne drauf, führte er eine Statistik über jeden Spieler. Beim Spielen – während er die Metallstangen verschob, um die Spieler über das Eis zu bewegen, und an den Griffen zog, um zu schießen – kommentierte Leonard am laufenden Band: «DiMaglio klaubt den Puck vom Eis. Passt ihn zu McCormick. McCormick gibt ihn weiter an Sleeping Bear, der ihn Lecour zuschiebt, der schießt UND T OR !» Wie ein Wasserfall berichtete Leonard mit seiner schrillen vorpubertären Stimme von seinen einseitigen Siegen, während er ganz schnell Lecours Tore und Sleeping Bears Vorlagen notierte, bevor er sie vergaß. Zwanghaft führte er die Statistik und war so versessen darauf, Lecours Torkonto zu steigern, dass er sogar mit Janet spielte, die kaum die Steuerung bedienen konnte. Wie Janet es hasste, mit Leonard Tischhockey zu spielen! Und wie recht sie gehabt hatte, sah er jetzt ein. Das Einzige, was Leonard interessierte, war gewinnen. Wenn er gewann, hatte er ein gutes Selbstwertgefühl oder zumindest ein besseres. Es war egal, ob der andere spielen konnte oder nicht.
    Die Krankheit, die sonst seine Wahrnehmung verzerrte, brachte solche Charakterfehler mit schmerzhafter Deutlichkeit ans Licht.
    Aber Leonard verachtete nicht nur sich selbst. Er hasste die Sportskanonen an der Schule, er hasste die Bullen von Portland in ihren Streifenwagen, den Angestellten im 7-Eleven , der ihm sagte, wenn er die
Rolling Stone
lesen wolle, müsse er sie kaufen; er hasste alle Politiker, Geschäftsleute, Waffenbesitzer, christlichen Fundamentalisten, Hippies, Fettwänste, die Wiedereinführung der Todesstrafe, vollzogen durchein Erschießungskommando an Gary Gilmore in Utah, den ganzen Staat Utah, die Philadelphia 76er für ihren Sieg über die Portland Trailblazers und am meisten Anita Bryant.
    Eine Woche lang ging er nicht zur Schule. Aber am Ende des folgenden Wochenendes war er wieder auf den Beinen. Das lag hauptsächlich an Godfreys Auftauchen vor seinem Fenster am Freitagnachmittag. Gegen halb vier kam Janet aus der Schule nach Hause und warf ihre Bücher auf den Küchentisch. Wenige Minuten später roch Leonard, dass sie eine tiefgefrorene Minipizza im Backofen warm machte. Bald danach telefonierte sie mit ihrem Freund. Leonard hörte seiner Schwester zu und dachte, wie falsch sie klang und dass Jimmy, ihr Freund, nicht wusste, wie sie wirklich war, als jemand an sein Zimmerfenster klopfte. Es war Godfrey. Als er Godfrey da draußen sah, fragte Leonard sich, ob er womöglich gar nicht so deprimiert war, wie er meinte. Er freute sich, seinen Freund zu sehen. Er vergaß alles, was er an der Welt hasste, und stand auf, um das Fenster zu öffnen.
    «Du hättest die Haustür benutzen können», sagte er.
    «Ich doch nicht», sagte Godfrey, während er durchs Fenster einstieg, «ich bin grundsätzlich der Mann fürs Hintertürchen.»
    «Du solltest es mal bei der alten Dame nebenan probieren. Die wartet schon auf dich.»
    «Wie wär’s mit deiner Schwester?»
    «Okay, du kannst wieder abhauen.»
    «Ich habe Gras dabei», sagte Godfrey.
    Er hielt den kleinen Plastikbeutel hoch. Leonard steckte die Nase hinein, und seine Depression fiel ein weiteres bisschen von ihm ab. Es roch wie der Regenwald am Amazonas – wie wenn man seinen Kopf zwischen die Beine eines einheimischen Mädchens legt, das noch nie vom Christentumgehört hat. Sie gingen hinaus, hinter die Garage, um etwas davon zu rauchen, stellten sich, damit sie vom Regen nicht nass wurden, unter das vorspringende Dach. Und dort stand Leonard, bildlich gesprochen, so ziemlich die ganze verbleibende Highschoolzeit, im Regen unter einem Vorsprung, kiffend. In Portland regnete es immer, und immer gab es in der Nähe irgendeinen Vorsprung: hinter der Schule, unter der stählernen Brücke im

Weitere Kostenlose Bücher