Die Liebeshandlung
Waterfront Park oder unter den durchlässigen Ästen einer vom Wind zerzausten Weymouthskiefer in jemandes Garten. Leonard hatte keine Ahnung, wie er es schaffte, aber irgendwie schleppte er sich am nächsten Montag wieder in die Schule. Er gewöhnte sich daran, mindestens zweimal am Tag in der Toilette heimlich zu weinen und so zu tun, als wäre alles in Ordnung, wenn er herauskam. Ohne zu wissen, was er da tat, begann er eine Selbstmedikation, indem er fast täglich bei sich oder bei Godfrey zu Hause high wurde und dazu große Dosen Bier trank, am Wochenende auf Partys ging und sich total zudröhnte. An den Nachmittagen unter der Woche war Leonards Elternhaus die Partyzentrale. Kids kamen mit Sixpacks und Gras vorbei. Immer wollten sie die Geschichte von dem Mord hören. Leonard schmückte sie aus, indem er erzählte, bei ihrem Einzug seien noch Blutflecke da gewesen. «Mensch, vielleicht sind sie immer noch da, wenn du genau hinsiehst.» Janet mied diese Partys wie der Teufel das Weihwasser. Sie drohte immer zu petzen, tat es aber nie. Ab fünf Uhr waren Leonard und seine Freunde auf ihren Skateboards draußen in den Gassen unterwegs, krachten in alles Mögliche hinein und lachten hysterisch über spektakuläre Stürze.
Nichts davon war ein Zeichen geistiger Gesundheit, aber es brachte ihn durch. Die Krankheit hatte sich noch nicht richtig in ihm eingerichtet. Es war möglich, sich währendeiner tage- oder wochenlangen Depression selbst zu betäuben.
Und dann geschah Erstaunliches. In seinem dritten Jahr an der Highschool kriegte Leonard die Kurve. Dafür gab es eine Reihe von Gründen. Vor allem den, dass Janet Ende August ans Whitman College in Walla Walla, Washington, gegangen war, viereinhalb Autostunden von Portland entfernt. Obwohl sie einander als Heranwachsende meistens ignoriert hatten, fand Leonard das Haus ohne sie einsam. Janets Weggang machte das Zuhausewohnen so viel unerträglicher. Und er zeigte ihm einen Ausweg.
Es war wie mit der Henne und dem Ei. Leonard konnte nie sagen, was zuerst da gewesen war, sein Wunsch, ein besserer Schüler zu werden, oder die Energie und Konzentration, die es ihm ermöglichten, das zu erreichen. Von jenem September an stürzte er sich ins Lernen. Er fing an, seine Pflichtlektüren zu Ende zu lesen und seine Hausarbeiten rechtzeitig abzugeben. Er brachte das absolut notwendige Minimum an Aufmerksamkeit auf, das er sich abverlangen musste, um bei Mathetests ein Sehr gut zu bekommen. Er wurde gut in Chemie, obwohl er Biologie lieber mochte, weil das Fach ihm irgendwie handfester, «menschlicher» vorkam. Da sich Leonards Noten verbesserten, wurde er in Fortgeschrittenenkurse gesteckt, die ihm noch besser gefielen. Es machte Spaß, einer von den Schlauen zu sein. In Englisch lasen sie
Heinrich IV., Zweiter Teil
. Leonard konnte nicht umhin, den Inhalt von Heinrichs Abschiedsrede an sein früheres lockeres Leben insgeheim auf sich zu beziehen. Obwohl er zu Schuljahresbeginn in Mathe schwer im Rückstand gewesen war, hatte er den, als er im Frühjahr die Zulassungsprüfungen fürs College machte, mehr als aufgeholt und bekam sowohl in Mathe als auch im Sprachlichen eine Eins. Er entdecktein sich eine Fähigkeit zu anhaltender Konzentration, die es ihm erlaubte, nur von kurzen Pausen zum Herunterschlingen eines Sandwichs unterbrochen, zehn Stunden am Stück zu lernen. Er fing an, seine Referate
früh
fertig zu machen. Er las
Darwin nach Darwin
und
Der falsch vermessene Mensch
von Stephen Jay Gould, einfach, weil es ihn interessierte. Er schrieb Gould einen Fanbrief und bekam von dem großen Biologen als Antwort eine Karte: «Lieber Leonard. Danke für Deinen Brief. Weiter so. S. J. Gould.» Auf der Vorderseite war ein Porträt von Darwin aus der National Portrait Gallery. Leonard hängte es über seinen Schreibtisch.
Zwei Jahre später, als Leonard im Wissen um den medizinischen Befund zurückblicken konnte, kam ihm der Verdacht, dass er seine letzten beiden Highschooljahre im Borderline-Zustand zur Manie verbracht hatte. Wann immer er nach einem Wort suchte, war es gleich da. Wann immer er eine These formulieren musste, bildeten sich ganze Absätze in seinem Kopf. Er konnte im Unterricht einfach den Mund aufmachen und drauflosreden, andere dabei auch noch zum Lachen bringen. Besser noch, sein neues Selbstvertrauen und seine Leistung erlaubten es ihm, großzügig zu sein. Er war ausgezeichnet in der Schule, ohne damit anzugeben, seine unerträgliche
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