Die Liebeshandlung
davonstürmte, in die Musikbox starrte und wieder und wieder die Titelauswahl durchblätterte.
Einen Monat später zog die Familie in die Linden Street 133 und erwarb mit dem neuen Haus noch etwas, worüber Frank und Rita sich streiten konnten.
All das kam, wie Leonard später von seinen Therapeuten erfuhr, emotionalem Missbrauch gleich. Nicht, dass er in einem Haus wohnen musste, in dem ein Mord stattgefunden hatte, sondern dass er der Mittler in den Angelegenheiten seiner Eltern war, ständig nach seiner Meinung gefragt wurde, bevor er reif genug war, eine zu äußern, und das Gefühl vermittelt bekam, er sei irgendwie verantwortlich für das Glück und später das Unglück seiner Eltern. Je nach dem Jahr oder dem Therapeuten, zu dem er gerade ging, hatte er gelernt, nahezu jede Facette seines Charakters als eine psychologische Reaktion auf das Gezänk seiner Eltern zu verstehen: seine Faulheit, seinen übertriebenen Ehrgeiz, seine Neigung, sich zu isolieren, seine Verführungskünste, seine Hypochondrie, sein Gefühl der Unverwundbarkeit, seinen Selbsthass, seinen Narzissmus.
Die nächsten sieben Jahre waren chaotisch. Im Haus wurde ständig gefeiert. Immer war irgendein Antiquitätenhändler aus Cincinnati oder Charleston in der Stadt und musste unterhalten werden. Frank präsidierte diesen feuchtfröhlichen Zusammenkünften, indem er allen nachschenkte, während die Erwachsenen zechten und kreischten und Frauen mit hochfliegenden Röcken vom Stuhl fielen. Ältere Herren spazierten in Janets Zimmer. Leonard und Janet mussten bei diesen Partys Drinks oder Horsd’œuvres servieren. An so manchem Abend, nachdem die Gäste weg waren oder mitunter noch in ihrer Anwesenheit, brach Streit aus, und Frankund Rita schrien sich an. In ihren auf verschiedenen Etagen gelegenen Zimmern drehten Leonard und Janet ihre Stereoanlagen auf, um den Lärm zu übertönen. Bei den Streitigkeiten ging es um Geld, um Franks Versagen im Geschäft, um Ritas Verschwendungssucht. Als Leonard fünfzehn wurde, war die Ehe seiner Eltern vorbei. Frank verließ Rita wegen einer Belgierin namens Sara Coorevits, einer Antiquitätenhändlerin aus Brüssel, die er bei einer Ausstellung in Manhattan kennengelernt und mit der er, wie sich herausstellte, seit fünf Jahren ein Verhältnis hatte. Einige Monate darauf verkaufte er den Laden und zog, wie er es immer vorausgesagt hatte, nach Europa. Rita verkroch sich in ihr Schlafzimmer und überließ es Janet und Leonard, die Highschool allein zu schaffen. Von Gläubigern eingekreist, raffte sie sich sechs Monate später heldenhaft dazu auf, eine Stelle beim YMCA der Stadt anzunehmen, und wurde mit der Zeit wie durch ein Wunder eine von allen Kindern verehrte und «Mrs. Rita» genannte Leiterin. Sie arbeitete oft bis spät. Janet und Leonard machten sich selbst ihr Abendbrot und gingen dann in ihre Zimmer. Und es schien, als wäre ihre Familie das eigentliche Mordopfer in diesem Haus.
Aber das war der Gedanke eines Depressiven. Eines
angehenden
Depressiven damals. Denn das war das Komische an Leonards Krankheit: die beinahe lustvolle Art, wie sie begann. Zuerst kamen seine düsteren Stimmungen der Melancholie näher als der Verzweiflung. Es war etwas Erfreuliches daran, allein durch die Stadt zu streifen und sich einsam und verlassen zu fühlen. Er empfand sogar ein Gefühl von Überlegenheit, ein gewisses
Recht
, die Sachen nicht zu mögen, die andere Jugendliche mochten: Football, Cheerleader, James Taylor, rotes Fleisch. Godfrey, einer seiner Freunde, stand auf Bands wie Lucifer’s Friend und Pentagram, und eineZeitlang verbrachte Leonard viel Zeit bei Godfrey, um sie sich anzuhören. Da Godfreys Eltern den Höllenlärm nicht aushielten, lauschten Godfrey und Leonard mit Kopfhörern. Zunächst setzte Godfrey sie auf, senkte die Nadel auf die Schallplatte und begann sich schweigend zu drehen und zu winden, während sein weggetretener Gesichtsausdruck die Tiefe der Verderbtheit anzeigte, der er ausgesetzt war. Dann kam Leonard an die Reihe. Sie spielten Songs rückwärts, um die verborgenen satanischen Botschaften zu vernehmen. Sie analysierten die Songtexte über tote Babys und die Verwesungskunst auf den Covers. Um Musik live zu hören, stahlen Leonard und Godfrey ihren Eltern Geld und kauften sich Karten für Konzerte im Paramount. Mit einigen hundert anderen unangepassten Teenagern im ständigen Nieselregen von Portland Schlange zu stehen war für Leonard das, was einem Zugehörigkeitsgefühl
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