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Die Liebeshandlung

Die Liebeshandlung

Titel: Die Liebeshandlung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeffrey Eugenides
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Tischhockey-Persona trat nirgends in Erscheinung. Da ihm die Schulaufgaben so leicht fielen, hatte Leonard Zeit, seinen Freunden bei
ihren
zu helfen, und zwar so, dass sie sich wegen ihrer Schwierigkeiten nie schlecht fühlten; geduldig erklärte er Schülern Mathe, die von Mathe keinen Schimmer hatten. Leonard ging es besser denn je. Seine Durchschnittsnote verbesserte sich innerhalb eines einzigen Halbjahrs von 3,7 auf 2,9.   Im letzten Schuljahr besuchte er vier Fortgeschrittenenkurse und bekam in Biologie, Englisch und Geschichte die Bestnote und in Spanisch einGut. War es schlimm, dass sein Blut ein Gegengift gegen die Depression enthielt, an der er im Frühjahr zuvor gelitten hatte? Wenn dem so war, beschwerte sich doch niemand, weder seine Lehrer noch seine Mutter und bestimmt nicht der Collegeberater an der Cleveland High School. Tatsächlich war es die Erinnerung an seine letzten zwei Schuljahre, als die Krankheit noch nicht die Krallen ausgefahren hatte und eher ein Segen als ein Fluch gewesen war, die Leonard auf die Idee zu seinem glänzenden Schachzug gebracht hatte.
    Er bewarb sich an drei Universitäten, alle im Osten des Landes, weil der weit weg war. Die Uni, die ihm die größte finanzielle Unterstützung bot, war die Brown University, über die er nicht viel wusste, aber sie war ihm von seinem Collegeberater empfohlen worden. Nach viel Streit per Ferngespräch mit Frank, der sich jetzt über die europäischen Steuersätze beklagte und Armut geltend machte, gelang es Leonard, seinem Vater die Zustimmung dazu abzuringen, ihm Unterkunft und Verpflegung zu bezahlen. Daraufhin schickte er sein Annahmeschreiben an die Brown University.
    Sobald klar war, dass Leonard weit weg gehen würde, versuchte Rita, verlorene Zeit aufzuholen. Sie nahm sich eine Woche frei, um mit ihm eine Reise zu machen. Sie fuhren nach Walla Walla und besuchten Janet, die den Sommer über am Whitman College geblieben war und in der Bibliothek arbeitete. Rita überraschte Leonard, indem sie ihm, mit Tränen in den Augen am Steuer sitzend, sagte, wie stolz sie auf ihn sei. Als wäre er schon ein mündiger Erwachsener, verstand er plötzlich die Dynamik zwischen sich und ihr. Er begriff, dass sie Janet einfach lieber gehabt und sich deshalb schuldig gefühlt und an ihm herumgemäkelt hatte, um sich zu rechtfertigen. Er begriff, dass er sie als männliches Kind an Frankerinnerte und dass sie ihn darum, bewusst oder unbewusst, ein wenig auf Abstand hielt. Er begriff, dass er unbeabsichtigt Franks Verhalten kopiert und Rita, im Stillen, genauso herabgesetzt hatte wie Frank mit seinem Brüllen. Kurzum, Leonard begriff, dass ein Mensch, der nicht mehr da war, sein ganzes Verhältnis zu seiner Mutter bestimmt hatte.
    Am Tag seiner Abreise nach Providence fuhr Rita ihn zum Flughafen. Vor dem Abflug warteten sie gemeinsam in der Halle. Rita, mit Sonnenbrille, deren Gläser nach der neuesten Mode groß und rund waren, und mit einem Chiffontuch über ihrem Haar, saß reglos da wie eine Sphinx.
    «Das College, das du dir ausgesucht hast, ist aber wirklich sehr weit weg», sagte sie. «Muss ich das persönlich nehmen?»
    «Es ist eine gute Uni», sagte Leonard.
    «Aber nicht Harvard», sagte Rita. «Niemand hat je davon gehört.»
    «Es ist eine Ivy-League-Uni!», protestierte Leonard.
    «Dein Vater legt Wert auf so was. Ich nicht.»
    Leonard wollte schon wütend werden. Aber mit seinem neuen Erwachsenengehirn begriff er, dass Rita sein College nur schlechtmachte, weil es sich um etwas handelte, was er wollte und nicht sie selber war. Einen Moment lang sah er die Dinge aus ihrer Sicht. Zunächst hatte Frank sie verlassen, dann Janet und jetzt er. Rita war ganz allein.
    Er dachte nicht weiter darüber nach, denn es machte ihn traurig. Sobald er konnte, stand er auf, umarmte seine Mutter und ging zum Ausgang der Wartehalle.
    Erst als er seinen Platz im Flugzeug eingenommen hatte, kamen Leonard die Tränen. Er drehte sich zum Fenster, um sein Gesicht zu verbergen. Der Start begeisterte ihn – die schiere Wucht. Er starrte hinaus auf das Triebwerk und staunteüber die Schubkraft, die nötig war, um ihn mit solch großer Geschwindigkeit von der Erde hochzureißen. Er lehnte sich zurück, schloss die Augen und feuerte die Motoren an, als verübten sie einen notwendigen Gewaltakt. Aus dem Fenster sah er erst wieder, als Portland weit weg war.
    Anfangs schien jeder, den er am College kennenlernte, von der Ostküste zu sein. Luke Miller, sein

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