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Die Liebeshandlung

Die Liebeshandlung

Titel: Die Liebeshandlung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeffrey Eugenides
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aber jetzt fing er wieder ganz von vorne an.
    In der Bibliothek von Pilgrim Lake versuchte er, mehr über das Medikament zu erfahren, das er einnahm. Indem er mit dem Tempo eines Zweitklässlers las und dabei die Lippen bewegte, erfuhr er, dass Lithiumsalze bereits im 19.   Jahrhundert bei affektiven Störungen verwendet worden waren. Danach war die Therapie, hauptsächlich weil sie nicht patentiert und zu Geld gemacht werden konnte, in Ungnade gefallen. Lithium war zur Behandlung von Gicht, Bluthochdruck und Herzleiden eingesetzt worden. Bis in die 1950er Jahre war es Hauptbestandteil der 7-Up -Limonade gewesen (die ursprünglich «Bib-Label Lithiated Lemon-Lime Soda» hieß). Zu dieser Zeit wurden mit Lithium klinische Tests zur Behandlung von Huntington’scher Krankheit, Tourettesyndrom, Migräne, Clusterkopfschmerz, Ménière-Krankheit und periodischer hypokaliämischer Lähmung gemacht. Die Pharmafirmen zäumten das Pferd von hinten auf. Statt bei einer Krankheit anzufangen und ein Medikament dagegen zu entwickeln, entwickelten sie Medikamente und versuchten dann herauszufinden, wozu sie gut waren.
    Was Leonard, ohne nachzulesen, über Lithium wusste, war, dass es ihn benommen machte und geistig verwirrte. Sein Mund war immer trocken, egal, wie viel er trank, undhatte einen Geschmack, als lutschte er an einer Stahlschraube. Den metallischen Geschmack zu überdecken war einer der Gründe, weshalb er Tabak kaute. Wegen des Tremors in seinen Händen war seine Koordination gestört (er konnte nicht mehr Tischtennis spielen oder auch nur einen Ball fangen). Und obwohl alle seine Ärzte insistierten, am Lithium liege es nicht, hatte Leonards Sexualtrieb sehr nachgelassen. Er war zwar nicht impotent oder unfähig zum Vollzug, aber er hatte einfach kein großes Interesse daran. Das hatte vermutlich damit zu tun, wie unattraktiv und vorzeitig gealtert er sich durch das Medikament fühlte. In der Apotheke von Provincetown kaufte er nicht nur Rasierklingen, sondern auch den Säureblocker Mylanta und die Hämorrhoidensalbe Preparation H.   Wenn er wieder herauskam, drückte er immer eine kleine Plastiktüte an sich, weil er fürchtete, deren Durchsichtigkeit könnte das peinliche Produkt darin verraten, und hielt sie im Wind von Cape Cod darum noch fester vor seine kleinen Titten. Leonard ging auch deshalb in die Apotheke von P’town, um den Minimarkt auf dem Laborgelände zu meiden, wo er Gefahr lief, einem Bekannten zu begegnen. Damit Madeleine nicht mitging, musste er sich eine Ausrede einfallen lassen, wovon die unangreifbarste natürlich seine manisch-depressive Krankheit war. Er führte sie nicht offen an. Er murmelte bloß, er
wolle allein sein
, und Madeleine ließ ihn in Ruhe.
    Infolge seiner körperlichen und geistigen Störung hatte er mit einem weiteren Problem zu kämpfen: In seiner Beziehung mit Madeleine hatten sich die Machtverhältnisse verschoben. Anfangs war
Madeleine
die Bedürftige gewesen. Sie wurde eifersüchtig, wenn Leonard auf Partys mit anderen jungen Frauen sprach. Sie ließ Warnzeichen von Unsicherheit aufblitzen. Schließlich hatte sie vollends das Handtuch geworfenund «ich liebe dich» zu ihm gesagt. In der Annahme, er könnte Madeleine noch enger an sich binden, wenn er sie im Zweifel ließ, hatte Leonard kühl und verkopft reagiert. Aber Madeleine überraschte ihn. Sie trennte sich auf der Stelle von ihm. Als sie weg war, bereute Leonard den Vorfall mit Roland Barthes. Er geißelte sich dafür, so ein Blödmann gewesen zu sein. Er brauchte mehrere Sitzungen bei Bryce, um seine Gründe zu untersuchen. Und obwohl Bryce mit seiner Analyse der Situation – dass Leonard sich vor Intimität fürchtete und sich zum Selbstschutz über Madeleines Liebeserklärung lustig gemacht hatte – ziemlich richtiglag, brachte das Madeleine nicht zurück. Leonard vermisste sie. Er wurde depressiv. Törichterweise hörte er auf, sein Lithium zu nehmen, in der Hoffnung, sich dann besser zu fühlen. Aber er fühlte sich bloß verunsichert. Verunsichert und depressiv. Er quatschte jedem seiner Freunde die Ohren voll, wie sehr er Madeleine vermisse, wie sehr er sie zurückhaben wolle und wie sehr er seine allerbeste Beziehung vermasselt habe. Da er wusste, dass seine Freunde es satthatten, das zu hören, passte Leonard seine Monologe entsprechend an, teilweise aus dem Instinkt eines Geschichtenerzählers heraus, dass man Berichte auch variieren muss, teilweise, weil seine Ängste inzwischen immer zahlreicher

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