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Die Liebeshandlung

Die Liebeshandlung

Titel: Die Liebeshandlung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeffrey Eugenides
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gefährlicher Geisteszustand wie die Depression. Zunächst aber fühlte sie sich wie eine Welle der Euphorie an. Man war ganz und gar faszinierend, ganz und gar zauberhaft, jeder liebte einen. Man ging lächerliche Risiken für Leib und Leben ein, indem man zum Beispiel aus einem Zimmer im zweiten Stock eines Studentenwohnheims in eine Schneeverwehung sprang. Sie brachte einen dazu, sein Jahresstipendium in fünf Tagen auszugeben. Es war wie eine wilde Party im Kopf, eine Party, bei der mander betrunkene Gastgeber war, der niemanden gehen lassen wollte, der Leute beim Kragen packte und sagte: «Komm schon. Noch einen!» Wenn diese Leute zwangsläufig irgendwann verschwanden, ging man aus dem Haus und fand andere, irgendwen und irgendwas, damit die Party weiterging. Man konnte nicht aufhören zu reden. Alles, was man sagte, war brillant. Man hatte einfach die besten Ideen. Lasst uns nach New York fahren! Heute Nacht! Lasst uns aufs Dach klettern und den Sonnenaufgang beobachten! Leonard kriegte die Leute dazu, bei so etwas mitzumachen. Er verführte sie zu unglaublichen Eskapaden. Doch an irgendeinem Punkt wendete sich das Blatt. Sein Kopf fühlte sich an, als sprudelte er über. Wörter wurden darin zu anderen Wörtern, wie Muster in einem Kaleidoskop. Er machte nur noch Wortspiele. Kein Mensch verstand, wovon er sprach. Er wurde wütend, reizbar. Wenn er die Leute ansah, die noch eine Stunde zuvor über seine Scherze gelacht hatten, fiel ihm auf, dass sie seinetwegen beunruhigt und besorgt waren. Also lief er hinaus in die Nacht oder den Tag oder den Abend und fand andere, die mitmachten, damit die wahnsinnige Party weitergehen konnte   …
    Wie ein Betrunkener auf einer Sauftour hatte Leonard danach einen Blackout. Am nächsten Morgen wachte er im Zustand völliger Entkräftung neben Lola Lopez auf. Aber Lola schaffte es, ihn aufzurichten. Sie führte ihn am Arm zum Gesundheitsdienst und sagte, er solle sich keine Sorgen machen, sich einfach an ihr festhalten, er werde schon wieder in Ordnung kommen.
    Deshalb schien es besonders grausam, dass drei Tage später im Krankenhaus der Arzt in Leonards Zimmer kam und ihm mitteilte, er leide an etwas, was nie wieder weggehen werde, etwas, womit man sich «arrangieren» könne, als wärefür einen Achtzehnjährigen, der das Leben noch vor sich hat, das Sicharrangieren überhaupt eine Option.
     
    Im September, als Madeleine und Leonard gerade in Pilgrim Lake angekommen waren, hatte das Dünengras einen lieblichen hellgrünen Ton. Es wogte und neigte sich, als wäre die Landschaft ein japanischer Wandschirm. Salzwasserbächlein rannen durch die Sümpfe, und Virginiakiefern standen zu Gruppen vereint in verschwiegenen Hainen. Die Welt reduzierte sich hier auf Grundelemente   – Sand, Meer, Himmel – und beschränkte Baum- und Blumenarten auf ein Minimum.
    Als die Sommerbesucher allmählich abreisten und es kälter wurde, steigerte sich die Reinheit der Landschaft noch. Die Dünen nahmen einen zum Himmel passenden Grauton an. Die Tage wurden spürbar kürzer. Es war die perfekte Umgebung für eine Depression. Es war dunkel, wenn Leonard morgens aufstand, und dunkel, wenn er abends aus dem Labor nach Hause kam. Sein Hals war so dick, dass er seine Hemdkragen nicht zuknöpfen konnte. Der Beweis, dass Lithium stimmungsstabilisierend wirkte, wurde dadurch erbracht, dass er sich nicht jedes Mal umbrachte, wenn er sich nackt im Spiegel sah. Gewollt hätte er es schon. Jedenfalls meinte er, er hätte allen Grund dazu. Doch er konnte den erforderlichen Selbsthass nicht aufbringen.
    Deshalb hätte er sich gut fühlen müssen, aber sich «gut» zu fühlen war auch unerreichbar. Sowohl seine Hochs als auch seine Tiefs wurden eingeebnet, wodurch er sich vorkam, als lebte er in zwei Dimensionen. Seine Lithium-Dosis war jetzt höher, täglich 1800   Milligramm, mit entsprechend schweren Nebenwirkungen. Wenn er sich während seines wöchentlichen Termins bei Dr.   Perlmann am eineinhalbStunden entfernten Mass General darüber beschwerte, sagte der flotte Psychiater mit dem glänzenden Schädel immer dasselbe: «Geduld!» Perlmann schien mehr an Leonards Leben am Pilgrim-Lake-Laboratorium interessiert als daran, dass dessen Unterschrift jetzt aussah wie die eines Neunzigjährigen. Er wollte wissen, was für ein Typ Dr.   Malkiel war. Er wollte Klatsch hören. Wäre Leonard, von Frau Dr.   Shieu betreut, in Providence geblieben, wäre er längst auf einer niedrigeren Dosis gewesen,

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