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Die Liebeshandlung

Die Liebeshandlung

Titel: Die Liebeshandlung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeffrey Eugenides
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allerschönsten und differenziertesten formulierte Quatsch, den man sich vorstellen kann. Er sprach über die Ereignisse, die seinem Zusammenbruch vorausgegangen waren. Er zitierte seitenlang aus dem
Diagnostischen und statistischen Manual psychischer Störungen III
, das er offenbar, ohne es zu wollen, auswendig gelernt hatte. Er prahlte damit, wie schlau er war, weil er das immer tat. Er konnte es nicht lassen.
    Dabei wurde Leonard etwas Wesentliches über die Depression klar. Je schlauer man war, desto
schlimmer
war sie. Je schärfer der Verstand, desto mehr machte er einen nieder. Beim Sprechen bemerkte Leonard zum Beispiel, dass Wendy Neuman die Arme vor der Brust verschränkte, als wollte sie sich gegen die himmelschreiende Unaufrichtigkeit dessen, was er sagte, schützen. Um sie zurückzugewinnen, gab Leonard das zu und sagte: «Nein, ich nehme es zurück. Ich lüge. Ich lüge immer. Es gehört zu meiner Krankheit.» Er schielte zu Wendy hinüber, um herauszufinden, ob sie ihm das abkaufte oder ob sie es für eine weitere Unaufrichtigkeit hielt. Je genauer er ihre Reaktionen verfolgte, desto weiter kam er davon ab, die Wahrheit über sich zu sagen, bis er verlegenund mit erhitztem Gesicht verstummte, ein Schandfleck der Verleugnung.
    Dasselbe passierte in den Sitzungen bei Dr.   Shieu, aber anders. Auf dem kratzigen Sessel in ihrem Sprechzimmer war Leonard sich seiner gebildeten Ausdrucksweise nicht bewusst. Doch sein Kopf machte weiter mit seiner Liveanalyse des laufenden Wettbewerbs. Um aus dem Krankenhaus entlassen zu werden, musste er klarstellen, dass er nicht suizidgefährdet war. Aber er wusste, dass Dr.   Shieu auf der Hut war vor etwaigen Versuchen, Selbstmordgedanken zu vertuschen (da Suizidgefährdete glänzende Taktiker sind, wenn es darum geht, sich die Gelegenheit zum Selbstmord zu verschaffen). Deshalb wollte Leonard nicht
zu
euphorisch erscheinen. Zugleich wollte er nicht den Eindruck erwecken, sein Zustand bessere sich überhaupt nicht. Während er die Fragen der Ärztin beantwortete, fühlte er sich wie beim Verhör wegen eines Verbrechens. Wenn möglich, versuchte er, die Wahrheit zu sagen, aber wenn die Wahrheit nicht seiner Sache diente, beschönigte er sie oder log einfach. Er bemerkte jede Veränderung in Dr.   Shieus Gesichtsausdruck, deutete sie entweder als günstig oder ungünstig und passte seine nächste Antwort entsprechend an. Oft hatte er den Eindruck, die Fragen beantwortende Person in dem kratzigen Sessel sei eine Puppe, die er lenke, ja es sei schon immer so gewesen und sein Leben derart erfüllt davon, die Puppe zu steuern, dass er selbst, der Bauchredner, keine Persönlichkeit mehr habe und zu einem den Rücken der Puppe haltenden Arm geworden sei.
    Die Besuchszeit brachte keine Erleichterung. Die Freunde, die kamen, teilten sich in zwei Gruppen. Es gab die Gefühligen, überwiegend Mädchen, die Leonard wie ein rohes Ei behandelten, und es gab die Scherzbolde, überwiegendJungs, die ihm zu helfen meinten, indem sie Krankenhausbesuche generell durch den Kakao zogen. Jerry Heidmann brachte ihm eine überkandidelte Genesungskarte mit, Ron Lutz einen Heliumballon mit Smiley-Gesicht. Aus dem, was während der Besuchszeit aus den Mündern seiner Freunde drang, erschloss Leonard sich langsam, dass sie dachten, eine Depression wäre wie «deprimiert» sein. Sie dachten, es wäre wie schlechte Laune haben, nur schlimmer. Deshalb versuchten sie, ihn dazu zu bewegen, sich zusammenzureißen. Manche brachten ihm Schokolade mit. Sie drängten ihn, an das Gute in seinem Leben zu denken.
    Erwartungsgemäß kamen seine Eltern nicht angeflogen. Frank rief einmal an, nachdem Janet ihm Leonards Nummer gegeben hatte. Im Verlauf des kurzen Gesprächs (andere Patienten warteten darauf, das Gemeinschaftstelefon zu benutzen) sagte Frank dreimal zu Leonard, er solle «durchhalten». Er lud ihn ein, nach Brüssel zu kommen, sobald er sich besser fühle. Frank überlegte, nach Antwerpen zu ziehen und auf einem Hausboot zu wohnen. «Komm doch rüber, dann können wir eine kleine Bootsfahrt auf den Kanälen machen», sagte er, bevor er auflegte. Rita führte als Grund für ihre Reiseunfähigkeit ihren Bandscheibenvorfall an (von dem hörte er zum ersten Mal). Sie sprach jedoch mit Dr.   Shieu und rief Leonard dann eines Abends auf einem Telefon des Pflegepersonals an. Es war spät, etwa zehn Uhr, aber die Nachtschwester ließ ihn den Anruf entgegennehmen.
    «Hallo?»
    «Was soll ich nur mit dir

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