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Die Liebeshandlung

Die Liebeshandlung

Titel: Die Liebeshandlung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeffrey Eugenides
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Neuman oder einem Wachmann begleitet, hinunter ins Erdgeschoss. Auf einem von einem hohen Zaun umgebenen Asphaltstück reichten sie ein einziges Feuerzeug weiter und zündeten ihre Glimmstängel an. Die Backwoods schmeckten süß und gaben einem einen netten Kick. Auf und ab gehend und in den Himmel hinaufschauend, paffte Leonard, was das Zeug hielt. Er kam sich vor wie der Vogelmann von Alcatraz, nur ohne Vögel. Die Tage vergingen, und er begann sich deutlich besser zu fühlen. Frau Dr.   Shieu führte diese Besserung auf die eintretende Wirkung des Lithiums zurück. Doch Leonard dachte, es habe eine Menge mit dem guten alten Nikotin zu tun und damit, dass er nach draußen gehen durfte und einzelne Wolken über den Himmel segeln sah. Manchmal hörte er Autos hupen oder Kinder rufen, einmal etwas, was sich anhörte wie einauf einem nicht weit entfernten Baseballfeld sauber geschlagener Fastball, ein Geräusch, das ihn augenblicklich tröstete, das harte
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von Holz auf Rohleder. Leonard erinnerte sich daran, was für ein Gefühl es gewesen war, in der Schulmannschaft einen perfekten Pitch zu schlagen. Das war der Beginn seiner Genesung. Einfach bloß imstande zu sein, sich daran zu erinnern, dass Glücklichsein früher einmal so leicht gewesen war wie das.
    Und dann tauchte Madeleine im Aufenthaltsraum auf und verpasste die Abschlussfeier, und Leonard brauchte nichts weiter zu tun, als sie anzusehen, um zu wissen, dass er wieder lebendig sein wollte.
    Es gab nur ein Problem. Sie würden ihn nicht herauslassen. Dr.   Shieu ging weiter auf Nummer sicher und schob den Termin für seine Entlassung immer wieder auf. Und deshalb ging Leonard weiter in die Gruppe, zeichnete in der Bastelstunde Bilder und spielte im Sport Badminton oder Basketball.
    In den Gruppensitzungen gab es eine Patientin, die Leonard tief beeindruckte: Darlene Withers. Sie hatte eine gedrungene Statur und saß, die Knie umschlingend, mit hochgezogenen Beinen auf dem Klappstuhl. Immer war sie die erste Patientin, die den Mund aufmachte. «Hi, ich bin Darlene. Ich bin drogen- und alkoholabhängig und hab eine Depression. Das ist jetzt das dritte Mal, dass ich wegen der Depression im Krankenhaus bin. Seit drei Wochen, und – Ms.   Neuman? – ich bin jederzeit bereit zu gehen, wenn Sie mich gehen lassen.»
    Sie lächelte breit. Dabei rollte ihre Oberlippe sich ein und stülpte einen glänzenden Streifen der rosa Innenseite nach außen. Ihre Familie hatte ihr den Spitznamen «Tripellippe» gegeben. Leonard verbrachte ziemlich viel Zeit in der Gruppe mit Warten darauf, Darlene lächeln zu sehen.
    «Ich kann die Geschichte gut nachempfinden, weil die Autorin nämlich meint, ihre Depression kommt von zu wenig Selbstachtung», legte Darlene los. «Und mit so was plag ich mich täglich ab. Zum Beispiel hab ich mich in letzter Zeit irgendwie schlecht gefühlt, wegen meinem jetzigen Freund. Ich hab in ’ner festen Beziehung gelebt, als ich ins Krankenhaus kam. Aber seit ich hier bin? Nicht einmal hab ich was von meinem Freund gehört. Er ist weder zur Besuchszeit gekommen noch sonst was. Heut Morgen bin ich aufgewacht und hab mir echt leidgetan. ‹Du bist zu dick, Darlene. Du siehst nicht gut genug aus. Deshalb kommt er nicht.› Aber dann hab ich über meinen Freund nachgedacht – und wisst ihr was? Er stinkt aus dem Mund. Jawohl! Jedes Mal, wenn dieser Mensch mir nahe kommt, muss ich seinen stinkigen, ollen Atem riechen. Warum leb ich eigentlich mit einem zusammen, der sich nie die Zähne putzt, mit so schlechter Mundhygiene? Und die Antwort ist die: Weil du dich nämlich selbst so fühlst, Darlene. Als wenn du so wenig wert wärst und mit jedem zusammen sein müsstest, der dich nimmt.»
    Darlene war eine Kraftquelle der Station. Oft saß sie in einer Ecke des Aufenthaltsraums und sang vor sich hin.
    «Warum singst du, Tripellippe?»
    «Ich sing, damit ich nicht weine. Solltest du auch mal probieren, statt immer rumzuhocken und Trübsal zu blasen.»
    «Wer sagt denn, dass ich Trübsal blase?»
    «Trübsal blasen ist doch gar kein Ausdruck! Für dich müssten die sich eine ganz neue Diagnose einfallen lassen. Miesepeter’sche Störung. Das isses nämlich, was du hast.»
    Den Geschichten zufolge, die Darlene in der Gruppe von sich gab, hatte sie die Highschool nach der zehnten Klasse abgebrochen. Sie war von ihrem Stiefvater missbraucht worden und mit siebzehn von zu Hause weggegangen. KurzeZeit hatte sie in East Providence als Prostituierte

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