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Die Liebeshandlung

Die Liebeshandlung

Titel: Die Liebeshandlung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeffrey Eugenides
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gearbeitet, ein Thema, worüber sie bei einer Sitzung erstaunlich freimütig geredet und das sie dann nie wieder erwähnt hatte. Mit zwanzig war sie heroin- und alkoholsüchtig gewesen. Um vom Heroin und vom Alkohol wegzukommen, war sie religiös geworden. «Ich hab bloß Drogen genommen, um den Schmerz zu betäuben, wisst ihr? Ich hab mich so vollgedröhnt, dass ich nicht mehr wusste, wo ich bin. Ziemlich bald hab ich meinen Job verloren und meine Wohnung, einfach alles. Mein ganzes Leben lief auf einmal aus dem Ruder. Schließlich bin ich bei meiner Schwester eingezogen. Und meine Schwester, die hat diesen Hund namens Grover. Grover ist ein Pitbullmischling. Manchmal, wenn ich nachts in die Wohnung von meiner Schwester zurückgekommen bin, hab ich Grover Gassi geführt. Egal, wie spät es war. Wenn du mit ’nem Pitbull Gassi gehst, belästigt dich keiner. Du gehst die Straße lang, und alle sagen: Scheiße, halt! Ich und Grover, wir sind immer auf diesen Friedhof gegangen, weil da Rasen ist. Und in dieser einen Nacht sind wir also wieder hinter der Kirche, und ich besoffen wie immer, und ich schaue Grover an, und Grover schaut mich an, und auf einmal sagt er: ‹Warum bringste dich um, Darlene?› Ich schwör’s bei Gott! Ich weiß, dass es bloß in meinem Kopf war. Aber trotzdem, es ist die
Wahrheit
. Aus einem Hundemaul! Am nächsten Tag ich gleich zum Doktor, und der Doktor schickt mich rüber ins Sunbeam House, und das Nächste, was ich weiß, ist, dass sie mich aufnehmen. Haben mich nicht mal erst noch nach Hause gehen lassen. Haben mich gleich in ein Zimmer zum Entgiften gesteckt. Als ich dann clean war, hat die Depression zugeschlagen. Wie wenn sie nur darauf gewartet hat, dass ich vom H und vom Alkohol wegkomme, damit sie mich so richtig am Arsch kriegen kann. EntschuldigenSie die schlimmen Wörter, Ms.   Neuman. Drei Monate war ich im Sunbeam House. Das war vor zwei Jahren. Und jetzt bin ich wieder hier. In letzter Zeit war alles ein bisschen schwierig, finanzielle Probleme, emotionale Probleme. Mein Leben wird schon
besser
, aber leichter wird es nicht. Ich muss einfach suchtmäßig mein Programm durchziehen und krankheitsmäßig meine Medikamente schlucken. Wollt ihr wissen, was ich zwischen Abhängigkeit und Depression gelernt hab? Die Depression ist viel schlimmer. Aus der Depression kannst du nicht einfach
aussteigen
. Von der Depression kannst du nicht
clean
werden. Depression ist wie ’ne Wunde, die nie zugeht. ’ne Wunde in deinem
Kopf
. Du musst bloß aufpassen, dass du nie da anfasst, wo es wehtut. Trotzdem, sie ist immer da. Das wär’s. Danke fürs Zuhören.
Peace.
»
    Es überraschte Leonard nicht, dass Darlene religiös war. Leute ohne Hoffnung waren das oft. Doch Darlene wirkte nicht schwach, leichtgläubig oder dumm. Obwohl sie sich häufig auf ihre «höhere Macht» bezog und manchmal auch auf «meine höhere Macht, die ich Gott nennen will», schien sie bemerkenswert rational, intelligent und unvoreingenommen. Wenn Leonard vor der Gruppe sprach und die lange, verwickelte Schleife seines Geschwafels entrollte, blickte er häufig auf, um festzustellen, ob Darlene ihm ermunternd zuhörte, als wäre das, was er sagte, gar kein Geschwafel oder als hätte Darlene, selbst wenn es Geschwafel war, Verständnis für sein Bedürfnis, es loszuwerden, damit er etwas Wahres und Bedeutsames über sich erfahren konnte. Die meisten Patienten mit Drogenproblemen hatten sich die religiöse Tendenz der Zwölf-Schritte-Programme zu eigen gemacht. Wendy Neuman sah zwar wie die weltlichste Humanistin aus, die Leonard je gesehen hatte, doch verriet sie sich, was bestimmt vernünftig war, weder in die eine noch in die andereRichtung. Es war klar, dass alle auf der Station ziemlich am Ende waren. Keiner wollte etwas sagen oder tun, was die Genesung eines anderen behindert hätte. In dieser Beziehung war die Station sehr viel anders als die Außenwelt und ihr moralisch überlegen.
    An Gott zu glauben stand jedoch nicht in Leonards Macht. Das Irrationale am religiösen Glauben lag für ihn auf der Hand, lange bevor seine Nietzsche-Lektüre diese Vermutungen bestätigte. Das Einzige, was er in Religionswissenschaft je besucht hatte, war eine überlaufene Überblicksveranstaltung, die «Einführung in die östlichen Religionen» hieß. Leonard konnte sich nicht erinnern, weshalb er das belegt hatte. Es war im Herbstsemester nach seiner Diagnose im Frühjahr, und er ging alles langsam an. Er saß ganz hinten in

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