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Die Liebeshandlung

Die Liebeshandlung

Titel: Die Liebeshandlung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeffrey Eugenides
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Scherz sein?»
    «Nein.»
    «Irgendwelche Pläne?»
    «Wie bitte?»
    «Planen Sie, sich etwas anzutun? Phantasieren Sie darüber? Gehen Sie im Kopf Szenarien durch?»
    «Nein.»
    Manisch-Depressive, stellte sich heraus, hatten ein höheres Selbstmordrisiko als Depressive. Dr.   Shieus oberste Priorität war es, ihre Patienten am Leben zu erhalten. Ihre zweite Priorität war, sie wieder so hinzukriegen, dass sie das Krankenhaus verlassen konnten, bevor nach dreißig Tagen ihre Versicherungsleistungen ausliefen. Die Verfolgung dieser Ziele (die ironischerweise den Tunnelblick der Manie parodierte) führte zu einem starken Medikamenteneinsatz. Schizophrenen gab Dr.   Shieu automatisch Chlorpromazin, eine Droge, die mit einer «chemischen Lobotomie» verglichen wurde. Alle anderen bekamen Beruhigungsmittel und Stimmungsstabilisatoren. Seine Morgentherapiesitzungen verbrachte Leonard damit, mit dem angehenden Facharzt für Psychiatrie über das ganze Zeug zu sprechen, das er einnahm. Wie «vertrage» er das Valium? Werde ihm davon übel? Bekomme er Verstopfung? Ja, Chlorpromazin könne tardive Dyskinesie verursachen (rhythmische Bewegungsstörungen, häufig im Mundbereich), aber die trete oft nur vorübergehend auf. Der Arzt verschrieb ihm zusätzliche Medikamente gegen die Nebenwirkungen und schickte ihn, ohne ihn zu fragen, wie er sich
fühle
, zurück in sein Zimmer.
    Die klinische Psychologin Wendy Neuman war immerhin an Leonards psychischem Werdegang interessiert, aber er sah sie nur in der Gruppentherapie. Auf Klappstühlen im Versammlungsraum bildeten sie mit den Drogenabhängigen eine bunt gemischte Gruppe, eine perfekte Demokratie des Zusammenbruchs. Da waren ältere Weiße mit M.I.A.- Tattoos und Schwarze, die den ganzen Tag Schach spielten, eine Buchhalterin mittleren Alters, die eine englische Rugbymannschaft unter den Tisch hätte saufen können, und eine kleine junge Frau, eine angehende Sängerin, deren psychische Erkrankung in dem Wunsch Gestalt annahm, ihrrechtes Bein amputiert zu bekommen. Um die Diskussion in Gang zu bringen, reichten sie ein Buch herum, ein ramponiertes gebundenes Buch mit einem zerrissenen Schutzumschlag und gebrochenem Rücken. Das Buch hatte den Titel
Licht aus der Finsternis
und enthielt persönliche Zeugnisse von Leuten, die von einer psychischen Erkrankung genesen waren oder gelernt hatten, mit einer chronischen Krankheit umzugehen. Obwohl es das Gegenteil vorgab, war es grenzwertig religiös. Sie saßen im unfreundlichen Fluoreszenzlicht des Versammlungsraums, und jeder las einen Absatz vor, ehe er es an den Nächsten weiterreichte. Einige behandelten das Buch, als wäre es etwas Unergründliches. Sie sprachen «Deus» falsch aus. Sie wussten nicht, was «Kanaille» bedeutet. Das Buch war sehr veraltet. Einige, die Beiträge geschrieben hatten, nannten eine Depression «den Blues» oder «den schwarzen Hund». Als Leonard an die Reihe kam, las er seinen Abschnitt in einem Tonfall und einer Diktion vor, die klarmachten, dass er auf direktem Weg vom College Hill ins Krankenhaus gekommen war. An diesen ersten Tagen unterlag er dem Eindruck, eine psychische Erkrankung lasse Hierarchien zu und er sei eine höhere Erscheinungsform des Manisch-Depressiven. Wenn die Behandlung einer psychischen Erkrankung aus zwei Teilen bestand, einerseits der Medikation und andererseits der Therapie, und wenn die Therapie schnellere Fortschritte machte, je schlauer man war, dann waren viele in der Gruppe im Hintertreffen. Sie konnten sich kaum an das erinnern, was in ihrem Leben geschehen war, geschweige denn Bezüge zwischen Ereignissen herstellen. Einer litt an einem derart ausgeprägten nervösen Zucken, dass es schien, als schüttelte es die kohärenten Gedanken buchstäblich aus seinem Kopf. Jedes Mal, wenn er zuckte, vergaß er, was ergerade gesagt hatte. Seine Probleme waren physiologischer Natur, sein Gehirn fehlerhaft verschaltet. Ihm zuzuhören war, wie einem Radio zuzuhören, das zwischen zwei Kanälen eingestellt ist: Von Zeit zu Zeit quäkte etwas Zusammenhangloses dazwischen. Leonard war ganz Ohr, wenn Leute über ihr Leben sprachen, und nahm Anteil daran. Er versuchte, in dem, was sie sagten, Trost zu finden. Aber sein Hauptgedanke war, wie viel schlechter es ihnen ging als ihm. Dieser Gedanke bewirkte, dass er sich besser fühlte, also klammerte er sich daran fest. Doch dann war er selbst an der Reihe,
seine
Geschichte zu erzählen; er machte den Mund auf, und heraus kam der am

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