Die Liebeshandlung
der rappelvollen Vorlesung, las zumindest die Hälfte des Lesestoffs und ließ sich auch im Tutorium sehen, sagte aber nie ein Wort. Woran Leonard sich in dem Zusammenhang hauptsächlich erinnerte, war so ein Typ, der in ausgebeulten Secondhand-Anzügen und kaputten Schuhen aufkreuzte, so à la Betrunkener Prediger oder Tom Waits. Er trug eine schwarze Aktentasche mit Metallkanten, eine von der Art, die fünfzigtausend in kleinen Scheinen hätte enthalten können statt einer von Mircea Eliade herausgegebenen Taschenbuchausgabe der Upanischaden und eines in eine Papierserviette gewickelten, halb aufgegessenen Schoko-Blondie. Was Leonard an ihm gefiel, war, wie behutsam er die rings um den Seminartisch geäußerten unqualifizierten Meinungen richtigstellte. Der ganze Kurs war voller Landkommunarden, Vegetarier in Latzhosen und gebatikten T-Shirts . Sie pflegten das Vorurteil, die westlichen Religionen seien für alles Schlechte in der Welt verantwortlich, die Plünderung der Erde, Schlachthäuser, Tierversuche, während die östlichenReligionen ökologisch und friedfertig seien. Leonard hatte weder den Wunsch noch die Energie, sich über diese Punkte zu streiten, aber es gefiel ihm, wenn der junge Waits es tat. Als sie zum Beispiel über das Konzept der «Ahimsa» diskutierten, merkte der junge Waits an, die Bergpredigt habe im Wesentlichen dieselbe Aussage. Er beeindruckte Leonard, indem er erwähnte, Schopenhauer habe bereits 1814 versucht, die europäische Welt für das vedische Denken zu interessieren, und die beiden Kulturen hätten sich nachhaltig vermischt. Seine These lautete wieder und wieder, dass die Wahrheit nicht Eigentum eines bestimmten Glaubens sei und dass man bei genauer Betrachtung eine Grundlage finde, auf der sich alle berührten.
An einem anderen Tag waren sie vom Thema abgekommen. Jemand hatte Gandhi angeführt und behauptet, dass sein Glaube an die Gewaltlosigkeit inspirierend für Martin Luther King gewesen sei, was am Ende zum Bürgerrechtsgesetz geführt habe. Dem Redner kam es darauf an, dass es letztlich ein Hindu gewesen war, der aus dem sogenannten christlichen Amerika einen gerechteren und demokratischeren Ort machte.
Worauf der junge Waits das Wort ergriff: «Gandhi war von Tolstoi beeinflusst», sagte er.
«Was?»
«Gandhi hatte seine Philosophie der Gewaltlosigkeit von Tolstoi. Sie haben korrespondiert.»
«Hm, hat Tolstoi nicht irgendwann im neunzehnten Jahrhundert gelebt?»
«Er starb 1912. Gandhi hat ihm Verehrerbriefe geschrieben. Er nannte Tolstoi seinen ‹großen Lehrmeister›. Du hast schon recht: Martin Luther King hatte die Gewaltlosigkeit von Gandhi. Aber Gandhi hatte sie von Tolstoi, der sieaus dem Christentum hatte. Deshalb unterscheidet sich die Gandhi’sche Philosophie eigentlich nicht vom christlichen Pazifismus.»
«Willst du damit sagen, Gandhi war Christ?»
«Im Grunde ja.»
«Das stimmt doch gar nicht. Christliche Missionare haben immer wieder versucht, Gandhi zu bekehren. Aber es hat nie geklappt. Er konnte solches Zeug wie Auferstehung und unbefleckte Empfängnis nicht akzeptieren.»
«Das ist auch nicht das Christentum.»
«Ist es wohl!»
«Das sind bloß Mythen, die um die Kernideen herum entstanden sind.»
«Aber das Christentum ist doch
voller
Mythen. Das ist ja am Buddhismus so viel besser. Er zwingt einen nicht, an irgendwas zu glauben. Nicht mal an einen Gott.»
Der junge Waits trommelte mit den Fingern auf seiner Aktentasche, bevor er entgegnete: «Wenn der Dalai Lama stirbt, glauben die tibetischen Buddhisten, sein Geist werde in einem Baby wiedergeboren. Die Mönche wandern durch das ganze Land und begutachten alle Neugeborenen, um herauszufinden, welches es ist. Sie bringen persönliche Habseligkeiten des Verstorbenen mit, die sie über den Gesichtern der Babys baumeln lassen. Je nachdem, wie die Babys reagieren, wählen sie mit Hilfe eines geheimen Verfahrens – das sie niemandem erklären können – den neuen Dalai Lama. Und ist es nicht erstaunlich, dass das richtige Baby immer in Tibet geboren wird, wo die Mönche es finden können, statt in, sagen wir, San José? Und dass es immer ein männliches Baby ist?»
Damals, als er in Nietzsche vernarrt (und im Halbschlaf) war, wollte Leonard sich nicht auf diese Diskussion einlassen,die darauf hinauslief, dass alle Religionen nicht gleichermaßen gültig, sondern gleichermaßen unsinnig sind. Nach dem Semesterende vergaß er den jungen Waits. Erst zwei Jahre später, als er sich mit
Weitere Kostenlose Bücher