Die Liebeshandlung
würde. Nachdem sie endlich gegangen war, richtete Madeleine sich auf, brachte ihre Kleider in Ordnung, und Tim nahm seinen Blazer und kehrte an die Highschool zurück.
Als Madeleine an Weihnachten nach Hause kam, um die Ferien dort zu verbringen, dachte sie, die Waage im Bad ihrer Eltern sei verstellt. Sie stieg herunter, justierte die Einstellung und probierte es erneut, woraufhin die Waage dasselbe Gewicht anzeigte. Dann trat sie vor den Spiegel, aus dem ihr ein besorgtes Streifenhörnchen entgegenstarrte. «Geht niemand mit mir aus, weil ich dick bin», fragte das Streifenhörnchen, «oder bin ich dick, weil niemand mit mir ausgeht?»
«Ich habe nie so einen Erstsemesterspeck angesetzt», prahlte ihre Schwester hämisch, als Madeleine zum Frühstück herunterkam. «Aber ich habe mich auch nicht so vollgefressen wie alle meine Freundinnen.» An Alwyns Sticheleien gewöhnt, beachtete Madeleine sie nicht, sondern zerlegte und aß in aller Ruhe die erste der siebenundfünfzig Pampelmusen, von denen sie bis Silvester zehrte.
Hungerkuren verleiten zu dem Trugschluss, man könnte sein Leben kontrollieren. Anfang Januar hatte Madeleine fünf Pfund abgespeckt, und als die winterliche Squash-Saison zu Ende ging, war sie wieder in glänzender Form, aber weit und breit zeigte sich immer noch kein männliches Geschöpf, das ihr gefallen hätte. Die Studenten am College schienen ihr entweder wahnsinnig unreif oder frühzeitig gealtert, bärtige Möchtegerntherapeuten, die zu Coltranes
A Love Supreme
ihre Cognacschwenker über Kerzen wärmten. Es dauerte bis ins zweite Jahr, erst dann hatte Madeleine einen festen Freund. Billy Bainbridge war der Sohn von DorothyBainbridge, deren Onkel ein Drittel aller Zeitungen in den Vereinigten Staaten besaß. Billy hatte rote Wangen, blonde Locken und eine Narbe an der rechten Schläfe, die ihn sogar noch anbetungswürdiger machte, als er es ohnehin schon war. Er redete sanft und roch gut, wie Ivory-Seife. Nackt war sein Körper beinahe unbehaart.
Billy sprach nicht gern über seine Familie. Madeleine nahm es als Zeichen einer guten Kinderstube. Billy war ein Erbfolger an der Brown, weil seine Eltern schon dort studiert hatten, und manchmal beunruhigte ihn der Gedanke, dass er die Aufnahme aus eigener Kraft wohl kaum geschafft hätte. Sex mit Billy war behaglich, kuschelig, einfach rundherum gut. Er wollte Filmemacher werden. Allerdings war der einzige Film, den er für den Fortgeschrittenenkurs in diesem Fach gemacht hatte, ein wüster, in einer einzigen Einstellung gedrehter Zwölf-Minuten-Streifen darüber, wie Billy die Kamera mit kotähnlichem Browniematsch bewarf. Madeleine begann sich zu fragen, ob es vielleicht einen Grund gab, warum er nie über seine Familie sprach.
Über etwas anderes hingegen sprach er mit wachsender Intensität: die Vorhautbeschneidung. Billy hatte in einem alternativen Gesundheitsmagazin einen Artikel gelesen, der sich über diese Sitte empörte und einen starken Eindruck bei ihm hinterließ. «Wenn du mal überlegst, ist es ganz schön krank, einem Baby so was anzutun», sagte er. «Ihm ein Stück von seinem Schwanz abschneiden? Worin besteht eigentlich der Unterschied, ob man einem Neugeborenen Knochen durch die Nase steckt, wie man es bei manchen Stämmen, sagen wir, in Papua-Neuguinea macht, oder ihm die Vorhaut abschneidet? Ein Knochen durch die Nase ist noch harmlos dagegen, das ist als Eingriff lange nicht so invasiv.» Madeleine hörte zu, wobei sie versuchte, eine mitleidsvolle Mieneaufzusetzen, und hoffte, dass Billy das Thema fallenließ. Aber die Wochen vergingen, und er griff es immer wieder auf. «Hier, in diesem Land, machen die Ärzte es automatisch», sagte er. «Sie haben meine Eltern nicht gefragt. Und nicht etwa, weil ich Jude wäre oder so.» Er zog über die Rechtfertigungen mit Gesundheits- und Hygieneargumenten her. «Vor dreitausend Jahren mag das ja sinnvoll gewesen sein, draußen in der Wüste, wo man nicht duschen konnte. Aber heute?»
Eines Abends, als sie nackt im Bett lagen, bemerkte Madeleine, wie Billy seinen Penis inspizierte und daran herumzog.
«Was machst du da?», fragte sie.
«Ich suche die Narbe», sagte er finster.
Er wandte sich an seine europäischen Freunde, Henrik den Unversehrten, Olivier den Vorhäutigen, und fragte sie aus: «Wie fühlt es sich an? Ist es nicht unglaublich reizempfindlich?» Er war überzeugt, einer Sinnesempfindung beraubt worden zu sein. Madeleine bemühte sich, das nicht persönlich
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