Die Liebeshandlung
Gang zwischen den Stockbetten entlangführte. «Es istein ständiges Kommen und Gehen, deshalb musst du einspringen, wo du kannst.» Die Einrichtung war viel kleiner, als Mitchell es sich nach der Lektüre von
Mutter Teresa – Etwas Schönes für Gott
vorgestellt hatte. Die Männerstation hatte weniger als hundert Betten, vielleicht eher fünfundsiebzig. Die Frauenabteilung war sogar noch kleiner. Der Bienenzüchter zeigte Mitchell den Vorratsraum, in dem die Medikamente und das Verbandszeug aufbewahrt wurden. Er führte ihn an der rußgeschwärzten Küche und der genauso primitiven Wäscherei vorbei. Eine Nonne stand vor einem Bottich mit kochend heißem Wasser und stocherte mit einem langen Stock in der Wäsche herum, während eine andere nasse Laken aufs Dach hinauftrug, um sie zum Trocknen aufzuhängen.
«Seit wann sind Sie hier?», fragte Mitchell den Bienenzüchter.
«Seit ein paar Wochen. Mit der ganzen Familie. Das ist unser Weihnachts- und Neujahrsurlaub. Meine Frau und die Kinder arbeiten in einem der Waisenhäuser. Ich hab mir gedacht, hier könnte es für die Kinder ein bisschen hart sein. Aber sich um süße kleine Babys kümmern? Klar, das geht.» Mit seiner sonnengebräunten Haut und den blonden Locken sah der Bienenzüchter aus wie eine Surf-Legende oder ein alternder Quarterback. Sein Blick war kühl und gelassen. «Zwei Dinge haben mich hierher geführt», sagte er, bevor er Mitchell sich selbst überließ, «Mutter Teresa und Albert Schweitzer. Vor ein paar Jahren bekam ich einen echten Schweitzer-Fimmel. Habe alles von ihm gelesen. Ehe ich michs versah, habe ich medizinische Grundkurse belegt.
Abends.
Biologie. Organische Chemie. Ich war zwanzig Jahre älter als jeder andere da. Aber ich habe mich nicht unterkriegen lassen. Voriges Jahr habe ich die Voraussetzungenerreicht, mich an sechzehn medizinischen Fakultäten beworben und wurde angenommen. Im Herbst fange ich an.»
«Was wird aus Ihren Bienen?»
«Ich verkaufe die Farm. Ich schlage ein neues Kapitel auf. Fange ein neues Leben an. Such dir das passende Klischee aus.»
Mitchell ließ es an diesem Tag langsam angehen und gewöhnte sich ein. Er half bei der Ausgabe des Mittagessens, indem er Daal in einen Napf schöpfte. Er brachte den Patienten ein Glas Wasser. Alles in allem waren die Männer sauberer und gesünder, als er gedacht hatte. Etwa ein Dutzend war jenseits von fünfundsechzig und lag mit totenkopfartigem Gesicht reglos im Bett, aber ziemlich viele waren mittleren Alters, einige sogar jung. Es war oft schwer zu sagen, was ihnen fehlte. An ihren Betten hingen keine Krankenblätter. Klar war nur, dass die Männer nirgendwo anders hinkonnten.
Die zuständige Nonne, Schwester Louise, war eine Zuchtmeisterin mit schwarzer Hornbrille. Den ganzen Tag stand sie vor dem Heim und gab in bellendem Ton Befehle. Freiwillige behandelte sie wie eine Plage. Ansonsten waren die Nonnen allesamt sanftmütig und nett. Mitchell fragte sich, woher sie die Kraft nahmen – klein und feingliedrig, wie sie waren –, die Notleidenden von der Straße in den alten Krankenwagen zu heben und die Leichen, wenn welche gestorben waren, hinauszutragen.
Die anderen Freiwilligen waren ein bunter Haufen. Es gab eine Gruppe irischer Frauen, die an die päpstliche Unfehlbarkeit glaubten. Es gab einen anglikanischen Pastor, der von der Auferstehung als «einer netten Idee» sprach. Es gab einen (schwulen) Sechzigjährigen aus New Orleans, der, bevor er nach Kalkutta kam, den Jakobsweg in Spanien entlanggepilgertwar und in Pamplona Station gemacht hatte, um beim Stierrennen mitzumachen. Sven und Ellen, das evangelische Paar aus Minnesota, trugen identische Safariwesten und hatten die Taschen voller Schokoriegel, die zu verteilen die Nonnen ihnen verboten. Die beiden mürrischen französischen Medizinstudenten lauschten bei der Arbeit ihrem Walkman und sprachen mit niemandem. Es gab Ehepaare, die eine Woche, und Studenten, die ein halbes oder ein ganzes Jahr blieben. Egal, wer sie waren oder woher sie kamen, alle gaben ihr Bestes, der Leitphilosophie zu entsprechen.
Immer wenn Mitchell Mutter Teresa im Fernsehen gesehen hatte, wie sie Präsidenten traf oder Preise für ihr humanitäres Engagement entgegennahm und dabei wie ein altes Weiblein in einem Märchen aussah, das in einen großen Ball hineinplatzt, immer wenn sie zum Mikrophon ging, das unweigerlich zu hoch für sie eingerichtet war, sodass sie das Gesicht beim Hineinsprechen priesterlich heben
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