Die Liebeshandlung
durchdringenden blauen Augen direkt auf die Essenden.
Die Bildunterschrift verkündete:
Jesus Christus ist der Herr dieses Hauses.
Der ungesehene Gast an jedem Tisch.
Der stille Zuhörer jedes Gesprächs.
An einem langen Tisch unter dem Wandbild saß eine große Gruppe zusammen. Die Männer dieser Gruppe trugen ihr Haar kurz. Die Frauen bevorzugten lange Röcke, Blusen mit Bubikragen und Sandalen mit Socken. Sie saßen gerade, hatten Servietten auf dem Schoß und unterhielten sich leise und ernst.
Das waren die anderen Freiwilligen von Mutter Teresa.
Was, wenn man gläubig war und gute Werke tat, was, wenn man starb und in den Himmel kam, und was, wenn dann alle dort oben Leute waren, die man nicht mochte? Anfangs hatte Mitchell am Freiwilligentisch gefrühstückt. Die Belgier, Österreicher, Schweizer und alle anderen hatten ihn herzlich begrüßt. Sie waren schnell darin, die Marmelade zu reichen. Sie hatten Mitchell höfliche Fragen über ihn gestellt und im Gegenzug höflich Informationen über sich selbst gegeben.Aber sie erzählten keine Witze und schienen leicht gequält von denen, die er machte. Mitchell hatte diese Leute im Hospiz von Kalighat im Einsatz gesehen. Er hatte sie dabei beobachtet, wie sie schwierige, unangenehme Aufgaben verrichteten. Er hielt sie für beeindruckende Menschen, besonders im Vergleich zu jemandem wie Herb. Trotzdem hatte er nicht das Gefühl, zu ihnen zu passen.
Nicht, dass er es nicht versucht hätte. An seinem dritten Tag in Kalkutta hatte Mitchell sich den Luxus einer Rasur beim Barbier gegönnt. In dem baufälligen Laden legte ihm der Friseur heiße Tücher aufs Gesicht, schäumte seine Wangen ein, rasierte sie und fuhr am Ende mit einem batteriebetriebenen Handmassagegerät über Mitchells Nacken und Schultern. Schließlich drehte der Barbier ihn zum Spiegel um. Und Mitchell sah sich genau an. Er sah sein blasses Gesicht, die großen Augen, die Nase, den Mund und das Kinn und etwas, was mit alldem nicht stimmte. Der Defekt war nicht einmal körperlich, nicht so sehr eine Laune der Natur als vielmehr eine der Menschen, oder nicht so sehr der Menschen als vielmehr der Mädchen, oder nicht so sehr der Mädchen als vielmehr von Madeleine Hanna. Weshalb mochte sie ihn nicht genug? Mitchell musterte, nach einem Hinweis suchend, sein Spiegelbild. Wenige Sekunden später sagte er, einem beinahe gewaltsamen Drang nachgebend, dem Barbier, er wolle einen Haarschnitt.
Der Barbier hielt eine Schere hoch. Mitchell schüttelte den Kopf. Der Barbier hielt den Elektrorasierer hoch, und Mitchell nickte.
Sie mussten die Einstellung aushandeln und einigten sich nach ein paar Anläufen auf einen halben Zentimeter. In fünf Minuten war die Sache erledigt. Mitchells braune Locken wurden geschoren und fielen in Haufen zu Boden. Ein Boyin zerlumpten Shorts kehrte sie nach draußen in den Rinnstein.
Nachdem er den Barbierladen verlassen hatte, überprüfte Mitchell ständig sein dramatisches Spiegelbild in den Schaufenstern der Avenue. Er sah aus wie ein Geist seiner selbst.
Ein Schaufenster, vor dem er stehen blieb, um sich zu betrachten, war das eines Juwelierladens. Mitchell ging hinein und fand die Kiste mit religiösen Anhängern. Darin waren Kreuze, islamische Halbmonde, Davidsterne, Yin-und-Yang-Symbole und andere Embleme, die er nicht kannte. Nach einigem Überlegen suchte er sich aus der Sammlung von Kreuzen unterschiedlicher Stilrichtung und Größe eines aus. Der Juwelier wog es und packte es kunstvoll ein, indem er es in ein Satinsäckchen steckte, das er in ein geschnitztes Holzkästchen legte, welches er sodann in Geschenkpapier wickelte, bevor er das ganze Päckchen mit Wachs versiegelte. Sobald Mitchell wieder auf der Straße war, riss er die erlesene Verpackung auf und holte das Kreuz heraus. Es war aus Silber mit einer blauen Intarsie. Und es war nicht klein. Zuerst trug er es unter seinem T-Shirt , aber eine Woche später, nachdem er offiziell ein Freiwilliger geworden war, begann er es darüber zu tragen, wo jeder, einschließlich der Kranken und der Sterbenden, es sehen konnte.
Mitchell hatte sich Sorgen gemacht, er könnte nach zehn Minuten schreiend wegrennen. Doch dann war es besser gegangen als befürchtet. An seinem ersten Tag war er von einem freundlichen, breitschultrigen Typen herumgeführt worden, einem Bienenzüchter aus New Mexico.
«Du wirst sehen, dass hier nichts besonders organisiert ist», sagte der Bienenzüchter, während er Mitchell den
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