Die Liebeshandlung
Sekunde drehte er sich zurück und knüpfte an das vorherige Gespräch an. «Auf Französisch soll Derrida viel eindeutiger sein», sagte er. «Es heißt, seine Prosa sei glasklar.»
«Vielleicht sollte ich ihn dann besser auf Französisch lesen.»
«Du kannst Französisch?», sagte Leonard, offenkundig beeindruckt.
«Nicht besonders. Aber für Flaubert reicht’s.»
Und dann machte Madeleine einen großen Fehler. Alles lief so gut mit Leonard, die Stimmung war so verheißungsvoll – sogar das Wetter half ein wenig nach, denn als sie fertig gegessen hatten und das Lokal verließen, um zum Campus zurückzukehren, zwang ein leichter Märzschauer sie, gemeinsam unter Madeleines Taschenschirm zu schlüpfen –, dass Madeleine ein ähnliches Gefühl überkam wie früher, als kleines Mädchen, wenn ihr ein Gebäck oder Dessert vorgesetzt wurde: ein so vom Wissen um seine kurze Dauer beschwertes Glück, dass sie die winzigsten Bissen genommen hatte, um den Genuss des Windbeutels oder Liebesknochens möglichst lange hinzuziehen. Aus genau denselben Gründen beschloss Madeleine, statt zu sehen, wohin der Nachmittag führen würde, erst mal Revue passieren zu lassen, wie weit es bereits gekommen war, und sich den Rest für später aufzusparen; also sagte sie zu Leonard, sie müsse nach Hause, arbeiten.
Sie gaben sich keinen Abschiedskuss. Nicht einmal annähernd.Leonard, unter den Schirm gebückt, sagte abrupt: «Bis dann», und hastete mit unverändert gesenktem Kopf durch den Regen weiter. Madeleine kehrte ins Narragansett zurück. Sie legte sich aufs Bett und blieb lange reglos liegen.
Die Tage schleppten sich bis zur nächsten Sem-21 1-Ver anstaltung dahin. Madeleine, etwas zu früh im Seminarraum, setzte sich auf einen Platz neben dem, wo Leonard gewöhnlich saß. Aber als er, zehn Minuten zu spät, schließlich auftauchte, setzte er sich auf einen freien Stuhl neben dem Professor. Er sagte die ganze Zeit nichts, streifte Madeleine mit keinem Blick. Sein Gesicht sah geschwollen aus, mit einer Spur roter Flecken auf der Wange. Kaum endete das Seminar, war Leonard als Erster zur Tür hinaus.
In der nächsten Woche erschien er gar nicht.
Und so musste Madeleine es ganz allein mit der Semiotik, Zipperstein und seinen Jüngern aufnehmen.
Inzwischen waren sie bei Derridas
Grammatologie
angelangt. Derrida ging ungefähr so: «In diesem Sinne ist sie [die Schrift] die
Aufhebung
aller anderen Schriften, insbesondere der Hieroglyphenschrift und der Leibnizschen Charakteristik, die vorher mit ein und derselben Geste kritisiert worden waren.» In poetischer Stimmung ging er so: «Woran übt aber die Schrift selbst, in ihrem nicht-phonetischen Moment, Verrat? Am Leben. Gleichzeitig bedroht sie den Atem, den Geist und die Geschichte als Selbstbezug des Geistes. Sie ist deren Ende, Endlichkeit und Paralyse.» Da Derrida behauptete, die Sprache unterminiere von Natur aus jede Bedeutung, die sie hervorzubringen suche, fragte Madeleine sich, wie Derrida wohl erwarten konnte, dass sie das, was er meinte, auch begriff. Vielleicht erwartete er es gar nicht. Dann war das der Grund, weshalb er mit so viel geheimnisvollerTerminologie, so viel Looping-Konstruktionen um sich warf. Weshalb er das, was er zu sagen hatte, in Sätzen sagte, deren Subjekte man erst nach minutenlangem Überlegen bestimmen konnte. (War «der Übergang zur Pluridimensionalität und zu einer delinearisierten Zeitlichkeit» wirklich ein mögliches Subjekt?)
Einen Roman zu lesen, nachdem man semiotische Theorie gelesen hatte, war, wie freihändig statt mit Handgewicht zu joggen. Sobald Madeleine das Semiotik-Seminar hinter sich hatte, floh sie in die Rockefeller-Bibliothek und dort nach unten in die B-Ebene , wo die offenen Magazine einen belebend modrigen Geruch verströmten, und griff sich etwas heraus – irgendetwas,
Das Haus der Freude
oder
Daniel Deronda
–, um wieder zu Verstand zu kommen. Wie wunderbar war es doch, wenn ein Satz logisch auf den anderen folgte! Was für ein exquisites Schuldgefühl bei der Sünde, sich an Geschichten zu erfreuen! Mit einem Roman aus dem neunzehnten Jahrhundert fühlte Madeleine sich in Sicherheit. Es würde Menschen darin geben. Etwas würde ihnen widerfahren in einer Welt, die unserer ähnlich war.
Außerdem gab es bei Wharton und Austen jede Menge Hochzeiten. Und es gab unwiderstehliche, düstere Männer jeder Art.
Am folgenden Donnerstag zog Madeleine sich für das Seminar einen Norwegerpullover mit
Weitere Kostenlose Bücher