Die Liebeshandlung
den Seminarraum fest entschlossen, etwas zur Diskussion beizutragen. Aber bevor sie den Mund aufmachen konnte, kam Thurston ihr zuvor.
«Der Culler war bestenfalls erträglich», sagte er.
«Was hat Ihnen daran nicht gefallen?», fragte der Professor.
Thurston hatte ein Knie oben an der Kante des Seminartischs. Er kippte den Stuhl auf die Hinterbeine und verknautschte das Gesicht. «Es ist lesbar und so weiter», sagte er. «Gut durchdacht und folgerichtig. Aber die Frage ist eben, ob man einen diskreditierten Diskurs – sagen wir, den der Vernunft – dazu benutzen kann, etwas so paradigmatisch Revolutionäres wie Dekonstruktion zu erklären.»
In der Hoffnung auf einvernehmliches Augenrollen ließ Madeleine den Blick um den Tisch schweifen, aber die anderen schienen begierig darauf zu hören, was Thurston zu sagen hatte.
«Etwas ausführlicher?», sagte Zipperstein.
«Also gut, ich meine, erstens ist der Diskurs der Vernunft nur ein Diskurs wie jeder andere, richtig? Und nur weil er imWesten als das Höchste gilt, hat man ihm eine Bedeutung von absoluter Wahrheit eingehaucht. Derrida sagt, dass man sich der Vernunft schon deshalb bedienen muss, weil Vernunft eben alles ist. Aber zugleich muss man sich bewusst sein: Sprache ist von Natur aus
un
vernünftig. Man muss sich aus der Vernünftigkeit herausvernünfteln.» Er zog den Ärmel seines T-Shirts hoch und kratzte sich an seiner knochigen Schulter. «Culler dagegen verfährt noch nach der alten Methode. Mono im Gegensatz zu Stereo. Unter diesem Aspekt, nun ja, fand ich das Buch eben ein bisschen enttäuschend.»
Ein Schweigen folgte. Und vertiefte sich.
«Ich weiß nicht», sagte Madeleine, wobei sie Leonard einen hilfesuchenden Blick zuwarf. «Vielleicht bin ich ja die Einzige, aber war es nicht eine Erleichterung, endlich mal eine logische Argumentation zu lesen? Culler kocht alles, was Eco und Derrida sagen, auf eine verdauliche Form herunter.»
Thurston drehte langsam den Kopf und starrte sie über den Tisch hinweg an. «Ich behaupte ja nicht, dass er
schlecht
ist», sagte er. «Er ist schon in Ordnung. Nur siedelt Culler sich auf einer anderen Ebene an als Derrida. Jedes Genie braucht einen Erklärer. Das ist Culler für Derrida.»
Madeleine nahm es gelassen. «Ich habe bei Culler sehr viel mehr von Dekonstruktion begriffen als bei Derrida.»
Thurston gab sich Mühe, ihren Standpunkt angemessen zu würdigen. «Es liegt in der Natur der Sache, dass eine Vereinfachung einfacher ist», sagte er.
Kurz darauf war das Seminar zu Ende, und Madeleine schäumte vor Wut. Am Ausgang der Sayles Hall sah sie Leonard, eine Coladose in der Hand, auf der Treppe stehen. Sie ging schnurstracks auf ihn zu und sagte: «Danke für die Unterstützung.»
«Wie bitte?»
«Ich dachte, du wärst auf meiner Seite. Warum hast du nichts gesagt?»
«Das erste Gesetz der Thermodynamik», sagte Leonard. «Energieerhaltung.»
«Warst du nicht meiner Meinung?»
«Ja und nein», sagte Leonard.
«Hat Culler dir nicht gefallen?»
«Culler ist gut. Aber Derrida ist ein Schwergewicht. Den kann man nicht einfach mit links abtun.»
Madeleine standen Zweifel im Gesicht, aber es war nicht Derrida, über den sie sich ärgerte. «Wenn man Thurston die ganze Zeit sagen hört, wie sehr er die Sprache
verehrt,
würde man es nicht für möglich halten, mit wie viel Fachjargon er um sich wirft. Das Wort
Phallus
hat er heute dreimal gebraucht.»
Leonard grinste. «Er meint sicher, vom vielen drüber Reden kriegt er einen.»
«Er macht mich wahnsinnig.»
«Hast du Lust auf einen Kaffee?»
«Und
Faschist
. Das ist auch so ein Lieblingswort von ihm. Kennst du die Reinigung an der Thayer Street?
Diese Leute
hat er Faschisten genannt!»
«Die arbeiten wohl mit Extrastärke.»
«Ja», sagte Madeleine.
«Ja, was?»
«Du hast mich eben zum Kaffee eingeladen.»
«Habe ich das?», sagte Leonard. «Ja, habe ich. Na dann. Trinken wir einen Kaffee.»
Leonard wollte nicht in den Blue Room gehen. Er sagte, er möge es nicht, von lauter Studenten umgeben zu sein. Sie gingen durch den Wayland Arch zur Hope Street hinauf, in Richtung Fox Point.
Unterwegs spuckte Leonard hin und wieder in seine Coladose. «Entschuldige meine eklige Angewohnheit», sagte er.
Madeleine kräuselte die Nase. «Willst du das die ganze Zeit so weitermachen?»
«Nein», sagte Leonard. «Ich weiß selbst nicht, warum ich es mache. Irgendwie hab ich das noch aus meiner Rodeo-Zeit.»
Beim nächsten Abfalleimer schmiss
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