Die Liebeshandlung
er die Dose weg und spuckte sein Tabakknäuel aus.
Nach einem kurzen Weg zwischen hübschen Campusbeeten voller Tulpen und Narzissen gelangten sie auf baumlose Straßen, an denen in heiteren Farbtönen gestrichene Arbeiterhäuser standen. Sie kamen an einer portugiesischen Bäckerei und an einem portugiesischen Fischgeschäft vorbei, in dem Sardinen und Tintenfisch verkauft wurden. Die Kinder hier hatten keine Gärten zum Spielen, schienen aber mit ihren diversen Geräten auf den kahlen Bürgersteigen begeistert hin und her zu rasen. Näher am Highway gab es ein paar Lagerhallen und, an der Ecke zur Wickenden Street, ein Esslokal für Leute aus dem Viertel.
Leonard wollte an der Theke sitzen. «Ich muss die Kuchen im Auge behalten», sagte er. «Damit ich sehe, welcher mit mir spricht.»
Während Madeleine sich auf den Hocker neben ihm setzte, starrte er auf die Vitrine mit den Süßspeisen.
«Erinnerst du dich daran, dass es früher immer Käsescheiben zum Apfelkuchen gab?», fragte er.
«Vage», sagte Madeleine.
«Jetzt machen sie es wohl nicht mehr. Du und ich, wir sind wahrscheinlich die einzigen Menschen hier, die sich daran erinnern.»
«Wenn ich ehrlich bin, erinnere ich mich nicht daran», sagte Madeleine.
«Nein? Nie eine kleine Scheibe Wisconsin-Cheddar zu deinem Apfelkuchen bekommen? Wie bedauerlich, das zu hören.»
«Vielleicht legen sie dir ja ein Stück Käse drauf, wenn du sie darum bittest.»
«Ich habe nicht gesagt, dass ich das
mochte
. Ich beklage nur, dass es das nicht mehr gibt.»
Das Gespräch stockte. Und plötzlich, ohne zu wissen, wie ihr geschah, geriet Madeleine in Panik. Sie verstand das Schweigen als ein Urteil gegen sich. Und zugleich machte ihre Angst vor dem Schweigen es noch schwerer, ein Wort herauszubringen.
Auch wenn es kein schönes Gefühl war, dermaßen aufgeregt zu sein, war es doch irgendwie schön. Das hatte Madeleine in Gegenwart eines Typen schon lange nicht mehr erlebt.
Die Bedienung stand am anderen Ende der Theke, redete mit einem Gast.
«Weshalb machst du eigentlich den Kurs bei Zipperstein?», fragte Madeleine.
«Philosophisches Interesse», sagte Leonard. «Buchstäblich. Philosophie heute, das ist reine Sprachtheorie. Nichts als Linguistik. Also habe ich gedacht, ich hör mir das mal an.»
«Machst du nicht auch Biologie?»
«Doch, sogar in der Hauptsache», sagte Leonard. «Philosophie mache ich nur nebenbei.»
Madeleine wurde bewusst, dass sie noch nie mit jemandem, der Naturwissenschaften studierte, zusammen gewesen war. «Willst du mal promovieren?»
«Im Augenblick will ich nur die Aufmerksamkeit der Bedienung.»
Er hob mehrmals den Arm und winkte, aber vergebens. Plötzlich sagte er: «Ist es heiß hier drinnen?» Ohne eine Antwort abzuwarten, langte er in die Gesäßtasche seiner Jeans und zog ein blaues Bandana heraus, das er sich über den Kopf legte, hinten zusammenknotete und mit flinken Bewegungen so zurechtzupfte, bis er zufrieden war. Madeleine beobachtete den Vorgang leicht enttäuscht. Sie assoziierte Bandanas mit Hacky Sacks, den Greatful Dead und Alfalfasprossen, lauter Dingen, auf die sie verzichten konnte. Trotzdem war sie beeindruckt von Leonards schierer Größe auf dem Hocker neben ihr. Seine Hünenhaftigkeit, gepaart mit seiner sanften – beinahe zarten – Stimme, verschaffte ihr ein seltsam märchenhaftes Gefühl, als wäre sie eine Prinzessin, die neben einem freundlichen Riesen sitzt.
«Die Sache ist nur», sagte Leonard, ohne die Bedienung aus den Augen zu lassen, «dass ich mich nicht wegen Linguistik für Philosophie interessiert habe. Was mich interessiert hat, waren die ewigen Wahrheiten. Sterben lernen et cetera. Jetzt hört sich das eher so an: Was
meinen
wir, wenn wir sagen, dass wir sterben? Was
meinen
wir, was wir meinen, wenn wir sagen, dass wir sterben?»
Endlich kam die Bedienung. Madeleine bestellte ein Dessert mit Hüttenkäse und Kaffee. Leonard bestellte Apfelkuchen und Kaffee. Als die Bedienung ging, schwenkte er seinen Hocker herum, sodass ihre Knie sich kurz berührten.
«Wie ausgesprochen weiblich von dir», sagte er.
«Bitte?»
«Hüttenkäse.»
«Ich mag Hüttenkäse.»
«Bist du auf Diät? Eigentlich siehst du nicht so aus.»
«Warum willst du das wissen?», sagte Madeleine.
Zum ersten Mal schien Leonard aus dem Konzept gebracht. Unterhalb des Bandanarands errötete sein Gesicht, er drehte sich weg, brach den Augenkontakt ab. «Ich bin nun mal neugierig», sagte er.
In der nächsten
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